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Rezension: Eine Frau-Annie Ernaux-Suhrkamp

Dies ist das zweite Buch der französischsprachigen Schriftstellerin #Annie_Ernaux, das ich im Onlinemagazin "Buch, Kultur und Lifestyle" rezensiere. Hat die Autorin sich in ihrem Werk "Der Platz" mit der Beziehung und dem Ableben ihres Vaters auseinandergesetzt, schreibt sie nun in "Eine Frau" über das Leben und den Tod ihrer Mutter, die in ihrer letzten Lebensphase dement wurde.

Annies Mutter, von der man in "Der Platz" bereits erfährt, dass sie ihr Arbeitsleben als Hilfskraft in einer Margarinefabrik begann, betreibt Jahre später dann einen Lebensmittelladen mit Kneipe. 

Sie habe zuallererst ihrer Kundschaft gehört, schreibt die Tochter - dies jedoch nicht beklagend, sondern es nur sachlich feststellend - denn Annie hat nicht vergessen, dass ihre Herkunftsfamilie ihren Lebensunterhalt zu einem nicht geringen Teil den Kunden ihrer Mutter zu verdanken hatte. 

Annie berichtet u.a. von den zwei Gesichtern ihrer Mutter, die sich des Wankelmuts ihrer Kunden bewusst war und sich deshalb bis zur Erschöpfung dafür einsetzte, die Kundenbindung zu stabilisieren. Annies Vater, nicht minder fleißig wie seine Frau, hatte mit dieser in Streitigkeiten nur ein Thema, "wer von beiden mehr arbeitete." Was beide wohl verband, war der Wille, ihrer gesellschaftlichen Herkunft materiell zu entkommen, wobei die Mutter ihr zudem durch Sprachanpassung, Wissensaneignung und verändertes Äußeres zu entkommen suchte. 

Für Annies Mutter war gesellschaftlicher Aufstieg vor allem eine Frage der Bildung, deshalb waren Bücher die einzigen Dinge, mit denen sie behutsam umging. 

Die Mutter unternimmt in der Kindheit und Jugend mit der Tochter immer wieder Dinge, um sie an Geschmack und den Interessen gebildeter Menschen heranzuführen. Erst später erkennt Annie, dass zwischen dem Wunsch nach Bildung und tatsächlicher Bildung Welten liegen. 

Während ihres Studiums dann entfremdet sie sich von ihrer Mutter und verachtet all das, was ihre Mutter als erstrebenswert erachtet, ganz dem Zeitgeist der 68er –Generation entsprechend. Mit ihrem Mann, einem Politologen aus gebildetem Haus, verbindet Annie das gleiche Bildungsniveau und später zudem zwei Kinder. Weshalb diese Ehe auseinander bricht, ist nicht Gegenstand des Buches.  

Sehr einfühlsam schreibt Annie Ernaux über den Weg in die geistige Umnachtung ihrer Mutter Jahre nach dem Tod ihres Vaters und schließlich über deren Tod, mit dem sie die letzte Brücke zu der Welt, aus der sie stammte, wie sie schreibt, verloren habe. 

Annies Mutter ist die eigentliche Heldin des Buches, allein ihrer Hilfsbereitschaft wegen und  ihrer Tatkraft halber, mit der sie ihrer Tochter die Basis für all das schenkt,  damit diese sich intellektuell entwickeln kann.

Der erneut sehr dicht verfasste Text verdeutlicht, dass die Autorin, nach Phasen jugendlicher Renitenz, einen latenten intellektuellen Dünkel im Laufe ihres Lebens entwickelte, der sie von ihrer Herkunftsfamilie entfremdet hat. 

Sie lässt erst als ihre Mutter dement wird, wirkliche Herzensbildung und  damit Reife erkennen, ohne die unser Leben nur Leere für uns bereithält. 

Gefallen haben mir folgende Sätze zum Ende des Buches: 

"Sie starb acht Tage vor Simone de Beauvoir. 
Sie war allen gegenüber großzügig, sie gab lieber, als sie nahm. Ist Schreiben nicht auch eine Form des Gebens?"

Ja, das ist es und das verbindet Annies Mutter mit Simone de Beauvoir, stellt eine versöhnende gemeinsame Augenhöhe her, in der Dünkel keinen Platz mehr hat. Genau so muss es sein, wenn Reife eingekehrt  ist und alles  als miteinander verbunden  begriffen wird.

Sehr empfehlenswert. 

Helga König

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Rezension: Der Platz-Annie Ernaux- Suhrkamp

#Annie_Ernaux ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, die vielfach mit Preisen ausgezeichnet worden ist. 

Die Ich-Erzählerin setzt sich in ihrem Text, den sie nach dem Tod ihres Vaters verfasst hat, mit dessen Leben und Herkunft auseinander. Seine Sozialisation begann in einer kinderreichen Landarbeiterfamilie zu Anfang des letzten Jahrhunderts, deren Armut ihn dazu zwang, noch halbwüchsig, sich ebenfalls bei einem Bauern zu verdingen. 

Nur mit viel Selbstdisziplin schaffte er gemeinsam mit seiner Frau, einer fleißigen Industriearbeiterin, den Sprung ins Kleinbürgertum. 

Als ihr Vater im Alter von 67 Jahren stirbt, ist  sie - die Tochter-  bereits Gymnasiallehrern. Über die Klassendistanz, die bereits zu Jugendzeiten zwischen ihr und ihrem Vater stand, wollte sie ursprünglich einen Roman mit ihm als Hauptfigur schreiben, doch es erfasste sie alsbald der Ekel. 

Erst nach dem Ableben des Vaters ist ihr bewusst, dass ein "Roman unmöglich ist." Sie möchte keine "Erinnerungspoesie", kein "spöttisches Auftrumpfen", was sie will und was ihr auch vortrefflich gelingt, ist die "Worte, Gesten, Vorlieben" ihres Vaters zusammenzutragen, das, "was sein Leben geprägt hat, die objektiven Beweise einer Existenz", von der auch sie ein Teil gewesen ist. 

Die Leser nehmen Anteil an einem beschwerlichen Leben in der Unterschicht vor und nach dem 1. Weltkrieg in der Normandie. Sie lesen voller Hochachtung, was dieser junge Mann alles in Kauf nimmt, worauf er verzichtet, um gesellschaftlich voranzukommen. Woche für Woche legt er Geld zurück, kann deshalb nach seiner Eheschließung, die gemeinsame Wohnung mit allem, was man braucht, einrichten. Dann macht er sich selbstständig mit einem kleinen Lebensmittelladen. 

Er akzeptiert, dass kinderreiche Arbeiterfamilien bei ihm anschreiben, hat Empathie, aber mit dieser lässt sich bekanntermaßen nicht rasch wohlhabend werden. Er verdingt sich nun als Schichtarbeiter in einer Ölraffinerie, während seine Frau den Laden führt.... Doch ich möchte an dieser Stelle nicht seinen gesamten Werdegang wiedergeben...

Die Tochter, die zum Gymnasium geht, zieht sich immer mehr in ihr Zimmer zurück, liest, lebt in zwei Sprachwelten und genau diese Welten sind es, die in ihrer Erinnerung zu Streit und Ärger mit ihrem Vater führten. 

Die Abnabelung von Eltern wird umso schwerer, auch schmerzhafter, wenn diese zugleich eine Abnabelung von der Gesellschaftsklasse, in die man hineingeboren wurde, bedeutet. 

Kränkungen, Verletzungen, Scham, Wut,  die damit einhergehen, über all das reflektiert die Tochter, die sich bewusst wird, dass erst durch den Tod ihres Vaters, sie nun tatsächlich im gehobenen Bürgertum angekommen ist, kein schlechtes Gewissen mehr haben muss, weil sie aufgrund ihrer Ausbildung im Grunde ihre Vorfahren verraten hat, auch wenn diese stolz auf ihr Mädchen sind, die es geschafft hat, die zu werden, wofür  die Vorfahren auf vieles verzichtet haben.  Ihr Erbe, das sie an Licht geholt hat durch die Reflexion, heißt  Dankbarkeit und diese Dankbarkeit macht das Buch so wertvoll.

Maximal empfehlenswert. 

Helga König

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