Den neuen Roman mit dem Titel "Olga" von Bernhard Schlink habe ich gelesen und zeitgleich gehört. Dies hat mir einen völlig neuen und dabei spannenden Zugang zu einem Text verschafft.
Auf 5 CDs warten 354 Hörminuten auf den Romaninteressierten. Im Buch sind es 320 Seiten, die es zu lesen gilt. Man nimmt das Gelesene durch die wunderbare Betonung des Vorlesers Burghart Klaußner auf den CDs viel intensiver wahr, ist neugieriger auf das was kommt, weil die Stimme Klaußners Emotionen transportiert, die man selbstlesend, sich auf den Textinhalt konzentrierend, wohl eher nicht bemerkt.
Der Autor von "Olga" ist der Verfasser des weltberühmten Romans "Der Vorleser", der in 50 Sprachen der Welt übersetzt und mit vielen nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet wurde.
Die Romanhandlung beginnt zu Ende des vorletzten Jahrhunderts. Erzählt wird die Geschichte einer ungewöhnlichen Frau, die aufgrund ihrer Neugierde und intellektuellen Fähigkeiten einen anderen Weg nimmt als er für sie gesellschaftlich vorgesehen ist.
Olga wird in Schlesien als Arbeiterkind einer polnischen Mutter und eines deutschen Vaters in Armut geboren und wächst, nachdem die Eltern an Fleckfieber sterben, bei ihrer Großmutter in Pommern auf. Ihr Verhältnis zu ihrer Großmutter ist alles andere als gut, weil diese aus ihr einen Menschen formen möchte, der Olgas Wesen nicht entspricht.
Ein Lehrer gibt dem einsamen Mädchen Bücher aus der Bibliothek und der Organist lässt sie an der Orgel üben.
Sie lernt die beiden Kinder der reichsten Familie im Dorf kennen, kann sich sich mit Herbert und Victoria anfreunden, weil die Geschwister "die Neugier und Bewunderung, mit der Olga sich für ihre Welt interessierte, unwiderstehlich" fanden.
Olga möchte Lehrerin werden. Dazu muss sie in einer Aufnahmeprüfung die Kenntnisse der oberen Klasse der "Höheren Mädchenklasse nachweisen". Ihr fehlen aber die materiellen Mittel für diese Schule, deshalb entschließt sie sich, die Kenntnisse der oberen Klasse selbstständig anzueignen. Dies gelingt ihr aufgrund ihrer Intelligenz und ihres Fleißes mit Bravour.
In dieser Zeit entwickelt sich die tragische Liebesbeziehung zu Herbert, der so völlig anders ist als sie, sich nicht für Bücher interessiert, sondern den eine undefinierbare Sehnsucht in die Welt hinaustreibt.
Mit Herbert lernt der Leser einen typischen jungen Mann der Zeit vor dem ersten Weltkrieg kennen. Er möchte ein Übermensch werden und "nicht rasten und nicht ruhen, Deutschland groß zu machen und mit Deutschland groß zu werden, auch wenn es ihm Grausamkeit gegen sich und gegen andere abverlangte."
Olga findet seine Worte zwar hohl, aber das hindert sie nicht ihn zu lieben. Liebe und Anziehung sind eben keine Frage von Gesinnung, sondern der Emotionen, die sich nicht problemlos steuern lassen.
Olga wird Lehrerin in Tilsit. Herbert geht nach Afrika und führt als Mitglied einer Schutztruppe Krieg gegen die Herero. Hier skizziert der Autor in wenigen Sätzen die Grausamkeit der damaligen kolonialen Politik. Herbert vermeidet in seinen Briefen die Realität darzustellen. Er möchte Olga in erster Linie imponieren. Für ihn sind die Schwarzen ein Menschenschlag, der noch auf tiefster Kulturstufe steht. Für ihn wäre eine Niederlage ein "furchtbarer Rückschlag im zivilisierten Völkerleben".
Nach seiner Rückkehr aus Afrika beginnt sein Reiseleben. Die Beziehung zu Olga ist sein Ruhepol, aber diese Verbindung, die nicht in einer Eheschließung münden wird, hindert ihn nicht seine Sehnsucht nach der Ferne auszuleben.
Das Kind, um das sich Olga sich fortan während ihres Alleinseins besonders kümmert heißt Eik. Wer dieses Findelkind tatsächlich ist, erfährt man auf den letzten Seiten des Buches.
Nachdem Herbert Argentinien, Brasilien, die Halbinsel Kola, Sibirien und Kamtschatka bereist hat, plant er eine Reise in die Arktis und sucht Geldgeber für die Expedition. Olga hilft ihm dabei, frei sprechen zu erlernen, damit er in Vorträgen Fürsprecher für seine Expedition werben kann. 1911 findet er in Herzog Ernst von Sachsen-Altenburg den ersten Förderer. 1913 dann beginnt Herbert die Expedition, von der er nicht mehr zurückkehren wird.
Man erfährt in der Folge von Ereignissen im 1. Weltkrieg und vom sinnlosen Auslöschen einer Generation junger Männer, liest von der nicht enden wollenden Trauer Olgas um ihren Geliebten und von ihrer einzigen Freude in diesen Jahren, ihrem Zögling Eik, der sich zu ihrem Entsetzen in einen strammen Nazis verwandelt.
Olga ist sozialdemokratisch eingestellt und weigert sich ihren Schülern Rassenlehre nahezubringen. Mit 53 Jahren wird sie von den Nazis aus dem Schuldienst entlassen, nicht nur weil sie taub geworden ist, lernt aber in Breslau in der dortigen Hörschule das Lippenlesen und kann fortan als Näherin ihren Lebensunterhalt verdienen.
Ihr gelingt 1945 die Flucht in den Westen, weil sie überleben und nicht so enden möchte wie Herbert. Hier arbeitet sie erneut als Näherin für mehrere Familien, erhält schließlich eine kleine Pension und näht nur noch für die Familie des Ich-Erzählers Ferdinand, der im 2. Teil des Buches die tragende Rolle einnimmt. Er ist der Sohn der Familie und der neue Zögling Olgas.
Zwischen den beiden entwickelt sich eine herzliche Freundschaft, die bis zum Ableben Olgas bestehen bleibt. Diese berührende Freundschaft der beiden ist intellektueller Natur und offenbart bei allem eine große Seelenverwandtschaft.
Dass Olga schließlich eines tragischen Todes stirbt, verwundert letztlich nicht. Er passt zu dieser Romangestalt.
Die Romanhandlung endet allerdings nicht mit dem Ableben Olgas. Es folgt eine Art Entschlüsselung ihrer Lebensgeheimnisse durch Briefe, in deren Besitz Ferdinand nach seiner Pensionierung kommt. Diese werden hier in der Rezension natürlich nicht verraten. Durch Olgas Briefe an Herbert, die dieser nie erhalten hat, lernt man die sehr nachdenkliche Frau in ihrer Tiefe kennen und begreift ihre menschliche Größe, mit der sie ihr persönliches Schicksal gemeistert hat.
Ein großer Roman mit vielen unterschiedlichen Facetten, der in erster Linie eine Verbeugung vor all den mutigen Frauen ist, die sich nicht blenden ließen von der pervertierten Stärkeverherrlichung und Großmannssucht mehrerer Männergenerationen, die im Nationalsozialismus ihren Höhepunkt fanden, aber letztlich in der Gegenbewegung der 1968er Generation auf moralischer Ebene bedenklich gespiegelt wurden.
Dass das gedankliche Band zu Herbert bis zu Olgas Tod bestehen bleiben konnte, zeigt was geschieht, wenn man mit einem geliebten Menschen über den Tod hinaus noch hadert.
Sehr empfehlenswert.
Helga König
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