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Rezension: 1913- Was ich unbedingt noch erzählen wollte- Florian Illies S. Fischer

Florian Illies war Leiter des Feuilletons und Literaturchef der ZEIT. Seit 2011 arbeitet er im Auktionshaus Grisebach in Berlin. Der Autor hat zuletzt mit "1913. Der Sommer des Jahrhunderts" international auf sich aufmerksam gemacht. Dieses Werk führte monatelang die Spiegel-Bestsellerliste an und wurde bislang in 27 Sprachen übersetzt. 

Mit seinem neuen Buch "1913- Was ich unbedingt noch erzählen wollte" bringt er den Lesern mittels thematisch höchst unterschiedliche Episoden Ereignisse nahe, die sich in den einzelnen 12 Monaten besagten Jahres  zugetragen haben. Es sind kürzere und längere Texte, in denen er diese Begebenheiten erzählt.

Maler wie Henri Matisse oder Ludwig Kirchner kommen zur Sprache und man liest  u.a. eine Episode, die sich Anfang Februar 1913 in Lissabon zutrug. Protagonist dieser Episode ist der Dichter Fernando Pessoa.

Was kommt dann und dann und dann..? Ein bunter Reigen an Ereignissen, die Ausdruck des damaligen Zeitgeists  sind.

Elegant und sehr weltläufig reiht sich Episode an Episode. Manche muten wie Randnotitzen an, so etwa die Zeilen "Scott F. Fitzgerald bekommt keinen Studienplatz in Havard (er muss nach Princeton). Aber T.S. Eliot darf ab Sommer 1913 in Harvard studieren."Solche Notizen machen neugierig. Man möchte mehr über die Hintergründe erfahren und auch, welche Konsequenzen dies für den Lebensweg der beiden Autoren hatte.

Sehr ansprechend fand ich die Geschichte, die wie folgt beginnt: "Am 6. April darf Lou Andreas-Salomé zum letzten Mal das Kolleg von Sigmund Freud in Wien stören. Na ja stören, eher beehren. Freud schenkt ihr einen Strauß frischer Rosen zum Abschied. Die mittelalten Herren sind entzückt über die blitzgescheite Gasthörerin. Und Lou Andreas-Salomé weiß, dass die Zeit bei Freud in Wien der Wendepunkt in ihrem Leben ist, wie sie abends in ihr Tagebuch schreibt…."

So geht es dann weiter Episode um Episode und man beginnt irgendwann zu erfassen, dass alles miteinander in Verbindung steht auf geheimnisvolle Weise. Die Verbindung wird durch den Zeitgeist hergestellt, der einen nie enden wollenden Sommer suggeriert.

Die Wimperntusche wurde im Frühling 1913 erfunden. Die Augen der Frauen wurden nun ausdrucksvoller, lange bevor man Greta Garbo zu einer entsprechenden Stilikone machte. Alles beginnt irgendwann und nichts geschieht ohne Grund. .

Dann kam der Sommer 1913 und mit diesem erwarten die Leser erneut unendlich viele Episoden.

Arthur Rubinstein kommt zur Sprache, er galt als der größte Pianist des Jahres 1913 aber auch Helena, die den gleichen Nachnamen trug, ist ein Thema. Sie war mit Arthur nicht verwandt, galt bemerkenswerter Weise im gleichen Jahr als die größte Kosmetik-Unternehmerin. Karrieren im Bereich des Künstlerischen und des Schönen, Karrieren zu Zeiten des Friedens, denkt man. Immer wieder kommen berühmte Maler zur Sprache. Sie und die Schriftsteller aber auch die Musiker wirken wie liebevolle Beschützer dieses Jahres, das das letzte Friedensjahr vor dem 1. Weltkrieg war. Dann ging das Licht für  drei Jahrzehnte aus.

Neugierig macht ein etwas längerer Text, der mit den Zeilen beginnt: "Ultima hieß die Frau des schwedischen Arztes Axel Munthe,……" Ach ja, "Das Buch von St Michele", der ein oder andere wird sich noch daran erinnern....

Der Zeitgeist des Jahres 1913 durchzieht all diese Episoden. August Macke wusste noch nicht, dass er bald sterben wird. Er zeichnet in diesem Sommer allerdings Pferde, auf denen Soldaten sitzen. Vorahnungen? Wer weiß das schon.

Der Zeitgeist hält inne am Monte Verità, der ersten deutschen Aussteigerkolonie und ist beeindruckt von der Avantgarde, die er  dort in sich aufnimmt wie alles, was geschieht im Hier und Jetzt des Jahres 1913. Die Avantgarde erhellt in den 1920ern dann zumindest die Nächte der Zeit, die ab 1914 immer dunkler wird.

#Florian_Illies hat alles Mögliche für einen Momentlang im Fokus: "Ende September schreibt Auguste Rodin aus Paris an Vita Sackville nach London....." Und an anderer Stelle "In Paris arbeitete Mata Hari weiterhin an der allmählichen Einführung der Nacktkultur." Und Arthur Schnitzlers "Liebelei" kommt ins Kino,...."Auch das ist Zeitgeist.  Konnte man in einem solch lebenszugewandten Klima die heraufziehende Kriegslüsternheit erahnen? Schon, sofern man politisch hellwach war. Berta von Suttner war es übrigens.

Alles, was man liest, deutet nicht auf einen abscheulichen Krieg hin. Die Menschen gehen ihren intellektuellen oder künstlerischen Beschäftigungen nach, verschließen sich nicht dem Neuen, feinden einander nicht an, sind kreativ und weltoffen.

Sehr schön in diesem Zusammenhang ist nachstehende Episode: "Ein Franzose und ein Deutscher in der Blüte ihrer Jahre spazieren an diesen ersten Frühlingstagen einträchtig an der Seine entlang. Sie gehen in ein Café, setzen sich nach draußen in die Sonne, trinken erst einen Rosé und dann noch einen und noch einen. Sie teilen alles, sogar ihre Freundinnen, etwa die Pariser Malerin Maire Laurencin oder Franziska von Reventlow, die wilde Münchner Gräfin, und ihre Erlebnisse ohnehin…“

Während ich dies lese, frage ich mich wie konnte der unsägliche Hass entstehen, der dazu führte, dass die Menschen sich schon ein Jahr später gegenseitig qualvoll umbrachten, anstelle in der Sonne zu sitzen und ein Glas Rosé miteinander zu trinken? Die Historiker glauben es zu wissen, die Poeten und Künstler werden es nie verstehen. Ich übrigens auch nicht.

Sehr empfehlenswert.

 Helga König

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1913 – Was ich unbedingt noch erzählen wollte: Die Fortsetzung des Bestsellers 1913