#Annie_Ernaux ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, die vielfach mit Preisen ausgezeichnet worden ist.
Die Ich-Erzählerin setzt sich in ihrem Text, den sie nach dem Tod ihres Vaters verfasst hat, mit dessen Leben und Herkunft auseinander. Seine Sozialisation begann in einer kinderreichen Landarbeiterfamilie zu Anfang des letzten Jahrhunderts, deren Armut ihn dazu zwang, noch halbwüchsig, sich ebenfalls bei einem Bauern zu verdingen.
Nur mit viel Selbstdisziplin schaffte er gemeinsam mit seiner Frau, einer fleißigen Industriearbeiterin, den Sprung ins Kleinbürgertum.
Als ihr Vater im Alter von 67 Jahren stirbt, ist sie - die Tochter- bereits Gymnasiallehrern. Über die Klassendistanz, die bereits zu Jugendzeiten zwischen ihr und ihrem Vater stand, wollte sie ursprünglich einen Roman mit ihm als Hauptfigur schreiben, doch es erfasste sie alsbald der Ekel.
Erst nach dem Ableben des Vaters ist ihr bewusst, dass ein "Roman unmöglich ist." Sie möchte keine "Erinnerungspoesie", kein "spöttisches Auftrumpfen", was sie will und was ihr auch vortrefflich gelingt, ist die "Worte, Gesten, Vorlieben" ihres Vaters zusammenzutragen, das, "was sein Leben geprägt hat, die objektiven Beweise einer Existenz", von der auch sie ein Teil gewesen ist.
Die Leser nehmen Anteil an einem beschwerlichen Leben in der Unterschicht vor und nach dem 1. Weltkrieg in der Normandie. Sie lesen voller Hochachtung, was dieser junge Mann alles in Kauf nimmt, worauf er verzichtet, um gesellschaftlich voranzukommen. Woche für Woche legt er Geld zurück, kann deshalb nach seiner Eheschließung, die gemeinsame Wohnung mit allem, was man braucht, einrichten. Dann macht er sich selbstständig mit einem kleinen Lebensmittelladen.
Er akzeptiert, dass kinderreiche Arbeiterfamilien bei ihm anschreiben, hat Empathie, aber mit dieser lässt sich bekanntermaßen nicht rasch wohlhabend werden. Er verdingt sich nun als Schichtarbeiter in einer Ölraffinerie, während seine Frau den Laden führt.... Doch ich möchte an dieser Stelle nicht seinen gesamten Werdegang wiedergeben...
Die Tochter, die zum Gymnasium geht, zieht sich immer mehr in ihr Zimmer zurück, liest, lebt in zwei Sprachwelten und genau diese Welten sind es, die in ihrer Erinnerung zu Streit und Ärger mit ihrem Vater führten.
Die Abnabelung von Eltern wird umso schwerer, auch schmerzhafter, wenn diese zugleich eine Abnabelung von der Gesellschaftsklasse, in die man hineingeboren wurde, bedeutet.
Kränkungen, Verletzungen, Scham, Wut, die damit einhergehen, über all das reflektiert die Tochter, die sich bewusst wird, dass erst durch den Tod ihres Vaters, sie nun tatsächlich im gehobenen Bürgertum angekommen ist, kein schlechtes Gewissen mehr haben muss, weil sie aufgrund ihrer Ausbildung im Grunde ihre Vorfahren verraten hat, auch wenn diese stolz auf ihr Mädchen sind, die es geschafft hat, die zu werden, wofür die Vorfahren auf vieles verzichtet haben. Ihr Erbe, das sie an Licht geholt hat durch die Reflexion, heißt Dankbarkeit und diese Dankbarkeit macht das Buch so wertvoll.
Maximal empfehlenswert.
Helga König
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