Ferdinand von Schirach, der Autor dieses Buches, hat bereits zahlreiche Erzählbände und Romane verfasst und gilt als "außergewöhnlicher Stilist" als auch "großartiger Erzähler", wie die New Times schreibt. Der Autor wurde vielfach mit Literatur- und Filmpreisen ausgezeichnet.
Das Buch enthält kürzere und längere Geschichten. Erzählt werden Ereignisse, die nachdenklich stimmen, weil sie zeigen, dass nicht alles planbar ist im Leben und das sogenannte Schicksal tatsächlich stets eigene Wege geht. Die Frage nach dem Warum sollte man nicht stellen, denn sie kann nicht beantwortet werden, obgleich Esoteriker dies auf ihre Weise immer wieder versuchen. Ferdinand von Schirach ist kein Esoteriker. Doch er ist ein intensiv beobachtender Erzähler, vor allem: weltläufig, gebildet und liberal.
Er erzählt zunächst von einem Freund, den er schon zu Internatszeiten kannte und der sich schon damals mit Philosophie befasste, später dann mit Naturwissenschaften. Ein Suchender. Für Massimo, so der Name des Freunde, war es ein Wahnsinn, dass alle Menschen immer wieder die gleiche Erfahrung sammeln mussten. Auch die gleichen Fehler. Er träumte von einem Buch, in dem die Regeln für ein gelungenes Leben nachzulesen seien. Massimo konnte diesen Leitfaden nicht mehr schreiben, da er bei einem Flugzeugunfall ums Leben kam. Schicksal!
Für den Icherzähler und Freund Massimos, ist ein solches Buch nicht zu realisieren, weil keiner wisse, weshalb ein Leben glückt und ein anderes nicht.
Genau das zeigt Ferdinand von Schirach in seinen Geschichten.
So schreibt er u.a. in seiner Erzählung "Spiegelstrafe" über seine Kindheitsfreundin Cynthia, deren Familie, alter schlesischer Adel, durch den Krieg alles verlor, deren alte Regeln nichts mehr galten und die die neuen Regeln nie ganz verstanden hatten. Diese Jugendfreundin trifft er später zu unterschiedlichen Zeitpunkten wieder. Bei einer der Begegnungen kommt es zu einem Gespräch der beiden über Truman Capote, der laut Cynthia der Marcel Proust Amerikas werden wollte. Sie erläutert, weshalb das nicht möglich war. Die "upperclass" aus der sie stammte, kenne die Regeln, die Capote nicht geläufig, es für Proust aber waren. Capotes Menschen, die er in seinen Texten beschreibt, gehörten der "high society" an. Capote habe die Gesellschaftsschicht nicht gekannt, die ohne Hochmut distanziert sei und für die Zeit etwas anderes als Tempo und Zukunft bedeute. Der weitere Verlauf der Geschichte lässt begreifen, weshalb von Schirach diese Überlegungen in die Erzählung einbindet.
Jahre später nämlich trifft der Ich-Erzähler erneut auf Cynthia. Jetzt berichtet sie ihm von einer Begebenheit, die viel über den Ehrencodex ihrer Herkunftsfamilie, der zugleich der Codex ihres verstorbenen Mannes war, aussagt: dieser Codex ist alttestamentarisch-kultiviert. Diese erzählte Begebenheit, die ich hier bewusst nicht ausbreite, ist schon ziemlich gruselig in den Augen all jener, deren Adelsstammbaum sich nicht 1000 Jahre zurück verfolgen lässt.
Sehr kurze Storys enthält "Die Sache mit dem Tod", die Menschen in stoischer Grundhaltung zeigt, gegenüber dem, was nicht zu ändern ist: dem Tod.
Kann man die Werke eines Künstlers immer noch preisen, wenn bekannt geworden ist, dass er ein Straftäter ist? Eine Frage, die Gegenstand einer weiteren Geschichte ist, bei der es um den berühmten Wiener Architekten Adolf Loos geht, darüber hinaus aber auch um bestimmte Filmemacher, Sänger etc. im Hier und Heute. Kann oder muss man die nicht tadellose Persönlichkeit eines Künstlers von seinen Werken in der Beurteilung trennen? Nicht einfach zu beantworten, auch für jene nicht, die ungern den Moralapostel spielen.
In der Geschichte "Unfälle" erzählt von Schirach von einer Begegnung, bei der es um die Sinnfrage geht. Sie zu beantworten, wird nach dieser Geschichte vermutlich nur Esoterikern möglich sein. Was ist, wenn ein generell böser Mensch, ein einziges Mal gut handelt und genau dann stirbt?
Was ist Schicksal? Was machen Schicksalsschläge mit Menschen? Gibt es ein Muster, weshalb das Schicksal zuschlägt oder ist alles nur Zufall?
In den Geschichten über das Leben des Tennisspielers Gottfried von Cramm und des Kulturhistorikers Egon Friedell wird deutlich, dass man sich seinem Schicksal nicht entziehen kann, es sei denn durch das eigene Ableben.
Leben heißt schmerzhafte Stufen in Kauf nehmen zu müssen, um erkennender zu werden, das heißt, zu begreifen, dass wir Menschen den tieferen Sinn von vielem nicht wirklich erkennen können. Der Sinn des Lebens? Vielleicht das Leben selbst? Vielleicht immerfort Probleme zu lösen, es zumindest zu versuchen? Vielleicht auch etwas völlig anderes?
Das entnehme ich als Essenz aus dem wundervoll geschriebenen Buch, dessen Inhalt lange nachwirkt.
Maximal empfehlenswert
Helga König
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