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Rezension: Anatolin: Roman (Gebundene Ausgabe)

Der Autor Hans-Ulrich Treichels befasst sich in seinem neuesten biographischen Roman abermals mit seiner Kindheit und der Vergangenheit seiner Eltern, wie auch seiner Entwicklung als Schriftsteller. Indem der Westfale östlicher Herkunft das frühe Gestern gedanklich abzuwehren sucht, kann er sich davon nicht lösen. So wird es auf diese Weise zum Dauerthema. "Denn nichts rückt mir so nah auf den Leib wie das, was ich fortlaufend abzuwehren suche",(S.85), ist sich der Ich-Erzähler durchaus bewusst.
Wieso eigentlich diese Abwehr, fragt sich der Leser und ist neugierig, welche Antwort Treichel bereithält.
Obschon ich beim Lesen anfangs dachte - Mensch, Junge, jetzt ist aber genug. Der Stoff ist ausgelutscht-, wurde mir nach ein paar Seiten klar, dass das Anliegen dieses Schriftstellers auch noch ein viertes Buch vertragen kann. Unabhängig von Treichels Fans, die ihn nicht grundlos aus stilistischen Gründen schätzen, dürfte das Klientel, das sich von der Thematik angesprochen fühlt, aber nicht sehr groß sein. Leider.

Auf dem Ich-Erzähler liegt die Qual einer Kindheit in den Fünfziger Jahren, die für viele Knaben an sich schon kein Zuckerschlecken war, wegen der zumeist schwarz getünchten, braunen Despotenväter. Auch der Vater des Erzählers züchtigt seine Kinder, die sich vor seinen Grobheiten fürchten. In dieser Kindheit ist Sparsamkeit das oberste Gebot und in der Folge auch die eifrige Mithilfe im Laden der Eltern. Diese haben im Osten Hab und Gut verloren und übertragen die Ängste - nicht bestehen zu können - auf ihre Kinder. Umsatzeinbußen im Geschäft des Vaters lassen bei dem Ich-Erzähler sofort Existenzpanik aufkommen. Als Kind von Heimatvertriebenen wird der Erzähler in Westfalen nur bedingt akzeptiert. Das war normal in jener Zeit, erwies sich aber nicht als Nachteil für die Kinder von so genannten Flüchtlingen, weil sie sich in der Regel intellektuell besser entwickelten als die Kinder der Verwurzelten, so meine Beobachtung.

Noch heute geistern Wörter, wie etwa "Lastenausgleich" durch den Kopf des Erzählers, weil sie einst von den Eltern pausenlos im Munde geführt wurden. Auch das war normal, weil die Menschen aus dem Osten sich finanziell benachteiligt fühlten. Gut das er diese Normalitäten benennt, so werden sie wenigstens nicht vergessen. Optisch lies sich der vergangene Krieg an dem amputierten Arm seines Vaters festmachen.

Kriegversehrte gab es in jenen Tagen noch viele. Sie hinterließen in Kindern allgemein einen Eindruck, den Treichel leider zu wenig beschrieben hat. Darüber nachzudenken und zu recherchieren ist gewiss sehr ergiebig.
Die Eltern übermittelten dem Kind offenbar keine historischen Familienfakten, schwiegen sich, aus welchen Gründen auch immer, aus. Wo lebten seine Großeltern? Weshalb kannte er sie nicht? Was war mit den Vorgenerationen? Jahrelang hat er diese Fragen weggedrängt. Er leidet an biographischer Entleerung, wie er konstatiert.

Die unbewältigte Vergangenheit seiner Eltern holt den Ich-Erzähler heute ein. Es geht nicht darum sich die so genannte "alte Heimat" seiner Vorfahren aufzusuchen oder seinen, während der Vertreibung verloren gegangenen, älteren Bruder wieder zu finden. So lässt sich sein Vergangenheitsproblem nicht bewältigen. Deshalb auch ist es notwendig für ihn abermals zur Feder zu greifen. Die Frage, die sich stellt, ist: Macht es Sinn in einer globalisierten Welt beinahe fiebrig nach alten Verwurzelungen zu forschen? Mir scheint, der Ich-Erzähler sucht etwas anderes als er vorgibt zu suchen.

Bin neugierig auf Treichels vierten Roman zum Thema. Er wird den Leser sicher nicht im Ungewissen lassen.
Stilistisch ist auch diesen Buch wieder superb.


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