Christóbal Pera, der Herausgeber, hat im Februar 2023 einige Anmerkungen zu diesem kleinen Kunstwerk verfasst, die man auf den letzten Seiten des Buches nachlesen kann.
Die Publikation wurde aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz einfühlsam ins Deutsche übersetzt.
Bevor ich mich in den Roman vertieft habe, las ich zunächst die Kurzfassung auf der zweiten Seite des Buches und dachte spontan an die 1972 entstandene Komödie des amerikanischen Regisseurs Billy Wilder mit dem Titel "Avanti, Avanti!" als auch an den Roman "Salz auf der Haut" der französischen Literaturwissenschaftlerin und Feministin Benoîte Groult. Beide Werke habe ich im Laufe der vergangenen Jahre rezensiert. Beide sind eindeutig Liebesgeschichten, doch ist es dieses Werk auch?
Die Protagonistin, Ana Magdalena Bach, eine verheiratete Frau Ende 40, reist jedes Jahr mit der Fähre auf eine Karibikinsel, um ihrer dort bestatteten Mutter einen Strauß Gladiolen aufs Grab zu stellen. Sie wählt diese Blumen, weil ihre Mutter diese liebte. Weshalb ihre Mutter auf der Insel beerdigt werden wollte, hat sich Ana Magdalena zunächst nicht tatsächlich erschlossen.
Sie nimmt sich stets für eine Nacht nach dem Besuch des Grabes in einem Touristenhotel ein Zimmer und reist am nächsten Morgen wieder ab, zurück zu ihrer Familie.
Diesmal geschieht etwas Ungeplantes.
Sie lernt in der Hotelbar einen Mann kennen, lässt sich auf diesen Avancen ein und verbringt mit ihm eine heiße Nacht in ihrem Hotelzimmer. Was stattfindet, ist nach meiner Interpretation reine körperliche Befriedigung, ist Sex ohne Liebe.
Ana Magdalena genießt diesen freizügigen Sex, ist allerdings entsetzt, als sie am nächsten Morgen einen 20 Euroschein in einem Buch auf dem Nachtisch vorfindet. Der Mann hat sie offenbar für eine Prostituierte gehalten. In der Welt lateinamerikanischer Männer verhält sich eine Dame eben grundsätzlich nicht wie eine Hure! Aber tut dies Ana Magdalena tatsächlich? Hat der Mann ein Recht sie wie eine Prostituierte zu behandeln? Ich denke: NEIN!
Ana Magdalena hat an dem Ausbruch aus ihrem bürgerlichen Leben Gefallen gefunden und lässt sich in den Folgejahren im August auf der Insel erneut auf "One-Night-Stands“ ein, dabei desinteressiert an den Männern, ihren Namen oder gar ihrer Herkunft, sondern wohl nur auf ihre eigene körperliche Befriedigung durch ihre Objekte der Begierde bedacht.
Es ist die körperliche Liebe zu sich selbst, die sie auf diese Weise entdeckt, auch befriedigt und die sie befreit von dem alltäglichen Einerlei, das ihr offenbar nicht gut tut.
Ihre Mutter scheint eine jahrlange Liebschaft auf der Insel gehabt zu haben. Nichts Näheres erfährt man darüber. Man kann diese Liebschaft aber vermutlich in das einreihen, was in "Avanti, Avanti" thematisiert wird. Groults "Salz auf der Haut" thematisiert zwar bereits den freien Sex, aber nur mit einem einzigen Lover, der gesellschaftlich leider nicht zur Protagonistin passt.
Wann wird eine Frau zur Hure?
Letztlich durch materielle Vergütung von Liebesdiensten. Findet diese nicht statt, handelt es sich nur um ein freizügig sexuelles Verhalten, das in der bürgerlichen Welt für verheiratete Frauen, nicht nur in Lateinamerika, sondern überall auf der Welt gewissermaßen tabu ist.
Vielleicht geht es Márquez in seinem Roman darum, diesen Tabubruch in Frage zu stellen, indem er ihn nicht moralisch wertet. Vielleicht geht es auch darum, die durch freien Sex zügellose Körperlichkeit dem Tod entgegenzusetzen, dem "Sack voller Knochen", der übrig bleibt, oft nur wenige Jahre nach der Einsamkeit, die Ana Magdalena offenbar verspürt als sie sagt "In meinem Alter sind alle Frauen allein."
Maximal empfehlenswert.
Helga König
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