Den hier vorliegenden Roman hat die südkoreanische Schriftstellerin Han Kang verfasst. Sie wurde 2024 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.
Griechischstunden handelt von zwei Menschen, die beide körperlich aber auch seelisch stark gehandicapt sind. Die beiden begegnen einander in einem Klassenzimmer. Er ist Griechischlehrer, sie eine Schülerin in mittleren Jahren. Die alte Sprache schenkt beiden einen Freiraum, den die Realität ihnen verweigert.
Bei den beiden handelt es sich um zwei Menschen aus Süd-Korea. Dort auch finden die Griechischstunden statt.
Die Protagonistin hatte bis zu ihrem Stimmverlust an zwei Universitäten und einem Kunstgynasium im Großraum Seoul Literatur unterrichtet, hatte drei Bändchen mit ernsten Gedichten veröffentlicht und schrieb bereits seit einigen Jahren eine Kolumne für ein Literaturmagazin. Ihre Aktivitäten stellte sie ein, als sie, aus für sie ungeklärten Gründen ihre Stimme verlor.
Sie leidet daran, dass sie innerhalb kurzer Zeit ihre Mutter und das Sorgerecht für ihren neunjährigen Sohn verloren hat. Einen Zusammenhang zwischen dem Stimmverlust und dem Verlust der für sie wichtigsten Menschen sieht sie nicht. Stattdessen arrangiert sie sich mit ihrer Verstummung, indem sie sich einer alten Sprache hingibt, die im Hier und Jetzt keiner mehr spricht. Sie lebt demnach geistig in einer Art Vorvergangenheit, lebt sprachlich gewissermaßen rückwärtsgewandt, sich der Zukunft im Grunde verschließend.
Ihr Griechischlehrer weiß, dass er erblinden wird, kann jetzt bereits ohne Brille nichts mehr sehen. Aufgewachsen in Deutschland, litt er lange am Hin-und Hergerissensein zwischen zwei Kulturen und Sprachen und wendet sich deshalb wohl einer toten Sprache zu. In ihr ist Ruhe, Schönheit und Ganzheit.
In seinem Heimatland gibt er 2 x pro Woche einen Anfängerkurs in Altgriechisch und freitags einen Kurs für Fortgeschrittene, in dem Platon gelesen wird. In diesem Zusammenhang liest man dann einen Schlüsselsatz des Werks: "Was auch immer die Motivation des Einzelnen ist, sie haben jedenfalls eine Sache gemeinsam. Wer Altgriechisch lernt, ist sowohl vom Lern- als auch vom Sprechtempo ein bedächtiger Mensch, der seine Gefühle nicht offen zeigt." Wie der Griechischlehrer anmerkt, gehört er zu dieser Kategorie.
Auch die Verstummte kann offenbar ihre Gefühle nicht offen zeigen. Beide Protagonisten scheinen insgesamt ziemlich "bedächtig" oder präziser verkopft zu sein und letztlich keinen Zugang zu ihrem Gefühlsleben zu haben.
Das zehnte Kapitel beginnt mit zwei altgriechischen Worten, diese zwei Verben- "leiden" und "erkennen" sind Gegenstand der Betrachtung des Griechischlehrers. Er vermittelt seinen Schülern, dass Sokrates mit diesen Wörtern spielt und andeuten möchte, "dass beides tatsächlich mehr miteinander zu tun hat, als es auf den ersten Blick scheint."
"Leiden" und "Erkennen" sind möglicherweise die Merkmale, die diese komplizierte Liebe der beiden ausmacht und sich in der Schönheit einer toten Sprache verdichtet, die begreifbar macht, dass diese schmerzende Seelenverwandtschaft mithin, "eine Dunkelheit ohne Ausgang" darstellt.
Ein nicht leicht zugänglicher Roman.
Maximal empfehlenswert
Helga König