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Rezension: Mein Fall- Josef Haslinger-S.Fischer



Der Autor des Textes "Mein Fall", der Schriftsteller #Josef_Haslinger, lehrt seit 1996 als Professor für literarische Ästhetik am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Er erhielt für seine Bücher zahlreiche Preise, u.a. den Preis der Stadt Wien, den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels und den Rheingau Literaturpreis. 2010 war er Mainzer Stadtschreiber. 

In seinem neuen Text berichtet er u.a. wie er als Schüler des #Sängerknabenkonvikts Stift Zwettel seitens katholischer Geistlicher sexuell missbraucht und darüberhinaus körperlich gezüchtigt wurde.

Josef Haslinger, geboren 1955 in Niederösterreich, hat sich erst 2018 dazu entschieden, sich an die "Unabhängige Opferschutzanwaltschaft, eine Initiative gegen Missbrauch und Gewalt" in Sachen Kindesmissbrauch zu wenden. Er schreibt über die Gespräche, die er dort führte und die Entscheidung, das, was er als Kind und Jugendlicher im Zisterzienserkloster erlebte, in einem Buch festzuhalten. Das alles geschieht aber erst, nachdem die Täter alle verstorben waren.

Pater Gottfried, sein damaliger persönlicher religiöser Berater, war wie diverse andere Geistliche pädophil und nutzte seine Position aus, um den kleinen Josef sexuell zu missbrauchen. Haslinger schreibt, dass er glaube, in jener Zeit tief religiös gewesen zu sein, insofern auch sei der Religionslehrer für ihn eine umfassende Autorität gewesen. 

Es scheint nicht so einfach für Josef Haslinger zu sein, die vielen verdrängten Erinnerungen wieder in sein Bewusstsein zu bringen. Lange hatte er sich mit den Tätern identifiziert, sie geradezu in Schutz genommen, wollte sie nicht kompromittieren. Es dauerte Jahre bis er innerlich akzeptierte, dass es keine einvernehmliche sexuelle Beziehung zwischen einem Neunundzwanzigjährigen und einem Elfjährigen geben kann. Haslinger wollte sich nicht ohnmächtig als Opfer begreifen, was er aber faktisch war. 

In einem Artikel, den er für das von Rotraud A Perner herausgegebene Buch mit dem Titel "Kirche-Täter-Opfer" schrieb, meint er, dass er die damaligen sexuellen Übergriffe in gewisser Weise als eine Art Auszeichnung empfunden habe. Da er als Schüler ein sehr religiöser Mensch war, der selbst Priester werden wollte, betrachtet er die einstige "moralische Verstörung" weitaus übler als die "erotische Konfusion". Im Nachhinein denkt er, dass vor allem "das ständige Erniedrigtwerden bis hin zur allgegenwärtigen körperlichen Züchtigung" später seine Hassgefühle hat wachsen lassen. Er interpretiert in seinem Artikel, das Verhalten der Pädophilen in der Sphäre von klösterlicher Gewalt als eine "Oase der Zärtlichkeit". Das Kloster sei ein "Exzess in dieser und jener Richtung" gewesen. Haslingers sexuelles Wohlverhalten sei damit belohnt worden, dass er jemand hatte, der sich um ihn kümmerte. 

Der Autor bindet  auch einen Text des Soziologen Gerhardt Amendt in "Mein Fall" ein, der kritisch mit Haslingers Erinnerungen umgeht und verdeutlicht, weshalb der sexuell Missbrauchte gegen die zugefügte Sexualisierung, den Vertrauensbruch und die Ausnutzung seiner kindlichen Sehnsucht nach Zärtlichkeit noch nicht wortgewaltig protestieren könne, weshalb er seine innere Freiheit so dringend wiederherstellen müsse. 

Muss man Empathie mit den Tätern haben, wenn man weiß, dass Pädophilie und Pädosexualität Persönlichkeitsmerkmale sind, die nicht wegtherapiert werden können? 

Empathie:Ja. Zugeständnisse machen, allerdings: Nein. Das Wohl der Schützlinge steht hier eindeutig im Vordergrund.

Damit dem Leser auch tatsächlich bewusst wird, was man unter sexuellem Missbrauch zu verstehen hat, informiert Haslinger mit der entsprechenden Textstelle aus einem Infoblatt der "Ombudstelle für Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch": 

"Sexueller Missbrauch beinhaltet: wenn  Betroffene von Täter/innen 
 zu deren sexueller Erregung 
- beobachtet, berührt oder im Intimbereich angegriffen werden
- zu sexuellen Praktiken gezwungen oder überredet werden 

oder wenn Betroffene gezwungen werden, den Täter/die Täterin
nackt zu betrachten 
oder bei sexuellen Praktiken zuzusehen" 

Haslinger schreibt nicht nur vom sexuellen Missbrauch der Geistlichen, sondern auch davon, dass er Masturbationshelfer bei Mitschülern war und von daher überzeugt gewesen ist, homosexuell zu sein, was aber keineswegs so war. So verwirrt hatten die pädophilen Geistlichen ihn.

Wie der Autor anmerkt, wurde die Hälfte aller kirchlichen Missbrauchsfälle in Einrichtungen von Männerordnen begangen. Offenbar fühlen sich Pädophile von diesen Orten angezogen.

Daneben erlebt Haslinger noch ein schreckliches Bestrafungssystem. Das in "verschiedene Stufen von körperlicher und psychischer Gewalt" untergliedert war. In jener Zeit war dies allerorten üblich und wurde von den Erwachsenen selten in Frage gestellt. 

Auch hier findet man eine Definition in Buch: "Körperliche und seelische Gewalt beinhaltet z.B.: Ohrfeigen, Schläge, absichtliches Stoßen, Würgen, Festhalten, Einsperren, Essen, Getränke und Schlaf entziehen; Verängstigungen, Drohungen, Erpressungen, Verleumdungen, Beschimpfungen, Demütigungen und Verspottung."

Was Josef Haslinger und andere Schüler in jener Zeit ertragen mussten, wird spätestens nach diesem Buch klar. Vor allem, die Wechselwirkung von sexuellen Übergriffen einerseits und Gewalttätigkeiten andererseits zu verarbeiten, dürfte alles andere als  leicht gewesen sein. 

Welche Konsequenzen ergeben sich aus den Erfahrungen, die in diesem Buch niedergeschrieben sind? Mit Aufklärung und Verboten scheint man das Problem der Pädophilie nicht lösen zu können, da es sich um einen genetischen Defekt handelt. Ein offener Umgang mit allen Missbrauchsfällen ist zwingend notwendig.  Doch auch dies löst das Problem nicht vollständig.

Herrn Haslinger und seinen ebenfalls betroffenen Mitschülern  gilt mein tiefes Mitgefühl. Pädophilen Geistlichen  kann man nur raten, sich  ohne Wenn und Aber an das Keuschheitsgebot zu halten. Das gebietet die Wertschätzung, nicht nur den Kindern gegenüber, sondern auch der Kirche, die durch sie in große Konflikte gerät.

Maximal  empfehlenswert
Helga König

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