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Rezension: Wer wir waren- Roger Willemsen- S. Fischer Verlage- Essay

Roger Willemsen hat bis zu seiner Krebserkrankung im Sommer 2015 an einem neuen Buch gearbeitet. Es sollte den Titel "Wer wir waren" tragen. Die zentralen Gedanken des Werkes hatte er damals schon in einer packenden "Zukunftsrede" formuliert und sie am 24. Juli 2015 gehalten. 

Die S. Fischer Verlage machen im vorliegenden Buch die essayistische Rede den Lesern und Leserinnen zugänglich, weil sie das Vermächtnis des vielfach ausgezeichneten Autors ist. 

Es handelt sich  um einen  sehr bedrückenden und zugleich melancholischen Text, der sich nicht in wenigen Worten zusammenfassen lässt. Den Infos des Verlags ist zu entnehmen, dass es sich auch um ein "leidenschaftliches Plädoyer" für die "Abspaltung aus der Rasanz der Zeit" handelt. 

So liest man gleich zu Beginn Sätze wie "Die Welt altert in Schüben. Wir bestimmen die Dynamik ihres Alterns mit " und ist neugierig auf das, was kommt. Was hat sich in uns verändert, seit es Radios in Autos gibt? Seither begegnen sich zwei Geschwindigkeiten "Fahrgeschwindigkeit stößt auf musikalisches Tempo. Plötzlich wird es möglich, Hochgeschwindigkeit zu fahren und einen Trauermarsch dabei zu hören. Der Kopf übertrifft sich schon in diesem Fall in neuen Höchstleistungen der Synchronisierung." 

Wir stumpfen ab in der Zange von Rasanz und Bilderfluten. "Bewusstsein", "Aufmerksamkeit" oder "Bedeutung" sind nicht mehr möglich. "Bewusstzuwerden hieße, in der Gegenwart anzukommen, die einmal die unsere gewesen sein wird." Rasanz macht dies aber unmöglich. 

Der Zeitindex allen Erlebens habe sich verändert. Aus dem Transit sei ein Prinzip geworden und das In-die-Irre-Gehen des Flaneurs sei dem Zoom gewichen. Wir, die wir im Internet zuhause sind, wissen das und widerstehen jeglicher Larmoyanz, weil wir amgestumpft genug sind.    

Sogar im öffentlichen Raum schwänden die Transitzonen des reinen Wartens, würden mithin  die Fristen der nicht effektiven Zeiten knapp und damit Selbstversenkung unmöglich. Von überall her komme Musik, strömten Bilder und Informationen … Stimmt. 

Das hat aus uns andere werden lassen. Abgestumpfte.

"Wir horten eine Art schlechtes Gewissen angesichts der Flüchtigkeit und kultivieren sie weiter, die flache Aufmerksamkeit, die jedes Detail weniger prägnant, auch weniger beeindruckend erscheinen lässt."

Wir ertrügen uns nicht mehr ohne mehrere Parallelhandlungen. Das wollen wir nicht leugnen. Und es stimmt auch, dass das eigene Ich von einer Müdigkeit erreicht wird, "einem Welken, einem Überdruss an sich selbst", die im Grunde nur durch unseren virtuellen Tod gestoppt werden können, dargestellt durch das Löschen der zuletzt geposteten Selfies. 

Roger Willemsen lädt ein zum Verweilen, wissend das der Augenblick sehr schön sein kann. Lernen wir also wieder das Staunen, damit wir wieder die sind, die verschwanden. 

Twittern werde ich als Fazit über "Wer wir waren": "Brillantes Denken geht mit brillanter Sprache einher. Chapeau."  

Anschließend werde  ich über nachstehenden Satz von Roger Willemsen nachdenken: "Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, voller Informationen, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, von uns selbst nicht aufgehalten" und erneut trauern, um diesen  wunderbaren Menschen.

Maximal empfehlenswert 

Helga König


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