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Rezension: Keine Sternschnuppen für Sara? Band 1 - Alles auf Anfang- Cassandra Negra- Jerry Media Verlag



Das ist der erste Band der Roman-Trilogie "Keine Sternschnuppen für Sara?", verfasst von Cassandra Negra. Dieser Band trägt den Untertitel "Alles auf Anfang". 

#Cassandra_Negra ist der Künstlername einer promovierten Wissenschaftlerin, die bereits mehrere Kriminalromane geschrieben hat und als Geschäftsführerin eines Familienunternehmens am Zürichsee lebt. 

Ihr neues Buch handelt von den Verwirrungen des Herzens, aber auch von der Notwendigkeit immer wieder loszulassen, um sich weiterentwickeln zu können. 

Die zentrale Figur des Romans ist Sara, eine attraktive, verwitwete Paartherapeutin in mittleren Jahren, die den Tod ihres Gatten noch nicht verarbeitet hat. Als dann auch noch ihr Vater stirbt, gerät sie in eine Lebenskrise. Halt sucht sie bei ihrem besten Freund, er heißt Kai, einem verheirateten Architekten, mit dem sie schließlich eine Affäre beginnt, ihn innig zu lieben glaubt, bestätigt in dieser Annahme, durch die Chemie im sexuellen Bereich, die hier perfekt stimmt. Die diesbezüglichen Liebesszenen, leicht pornographisch, beschreibt Cassandra Negra ausführlich, was dem Niveau des Buches keinen Abbruch tut, sondern es auf pikante Weise auflockert.

Kai ist nicht gewillt sich von seiner Ehefrau und seinen Kindern zu trennen. Sara erkennt schließlich, dass sie eine Entscheidung treffen muss und entscheidet sich gegen den Fortbestand der Affäre und damit für einen Neuanfang in Avon auf den Outer Banks. 

Auch hier wird sie mit Abschied und Tod, - eines ihrer Lebensthemen offenbar - konfrontiert, d.h. mit einem Muster, das ihr bisheriges Dasein auf beklemmende Weise durchzogen und Schuldgefühle bei ihr ausgelöst hat. 

Durch den 24 jährigen Tom, der an ALS erkrankt ist, lernt sie schließlich, sich dem Loslassen zu stellen, Vergangenes auf liebevolle Weise zu verarbeiten und hinter sich zu lassen. Sie erkennt, dass sie nur auf diese Weise frei wird für neue Bindungen. Es scheint so, als könnte sich eine solche mit Jack entwickeln, einem Witwer, den das Leben bereits hat reifen lassen. Doch da ist immer noch dieses ungeklärte sinnesfrohe, erotisch-leidenschaftliche Verhältnis zu Kai, das das Gegenbild zur Vergänglichkeit verkörpert…

Sara stellt sich im Laufe der Romanhandlung viele Sinnfragen, ist verunsichert, zitiert die Bibel,  Paul Coelho wie auch Khalil Gibran und erkennt "Und vielleicht war ja der Sinn, dass man lernen musste, das Unabwendbare zu akzeptieren, lernen musste, es auszuhalten, durchzuhalten und dennoch zu hoffen wagte." (S.114). 

Auf Seite 177 dann unmittelbar vor dem wunderbaren zwei Seiten umfassenden Gedicht über die Liebe von Khalil Gibran, das die Geisteshaltung des Romans auf den Punkt bringt, fand ich den zentralen Satz des Buches: "Lassen Sie sich niemals, egal von wem auch immer, brechen."

Saras Selbstzweifel und ihre Herzensverwirrungen werden auf wundersame Weise von hilfreichen Menschen, die zur rechten Zeit ihren Weg kreuzen, immer wieder aufgefangen, so dass sie nicht an ihrem Kummer, der ihr gesamtes Leben durchzieht, zerbricht… Doch, was, wenn die Kugel der Liebe zukünftig  möglicherweise die falsche Richtung nimmt? 

Ein flüssig geschriebener Roman, der sich immer wieder mit Sinnfragen des Lebens, die um die Liebe und den Tod kreisen, auseinandersetzt und neugierig auf den 2. Band macht, der  im Oktober 2021  erscheint.

Sehr empfehlenswert. 

Helga König

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Rezension: Danach-Rachel Cusk- Suhrkamp


Rachel Cusk, die Autorin dieses Romans lebt in England und hat bereits zehn Romane sowie vier Sachbücher verfasst. Eva Bonné, die schon zweimal mit dem Hamburger Förderpreis für Literarische Übersetzung ausgezeichnet wurde, hat diesen Roman sehr einfühlsam übersetzt. 

Die Icherzählerin, eine Schriftstellerin, hatte, wie sie schreibt, sich nach der Geburt ihrer Töchter dazu entschieden, in ihrem Beruf weiterzuarbeiten. Ihr Ehemann, ein erfolgreicher Fotograf erklärte sich bereit, Hausmann zu werden. 

Das Buch beginnt mit den Sätzen: "Kürzlich haben mein Mann und ich uns getrennt, und im Laufe weniger Wochen brach unser gemeinsam gestaltetes Leben  auseinander wie ein Puzzle, das in seine Einzelteile zerlegt wird." 

Die Schriftstellerin, eine Intellektuelle, überdurchschnittlich gebildet, versucht zu verstehen, was sich da ereignet hat, reflektiert ihren Feminismus und kommt dabei zum Ergebnis, dass dies, was sie als Feminismus lebte, im Wahrheit eine Ansammlung männlicher Werte war, die ihre Eltern und andere Menschen ihr mit bester Absicht vermacht hatten - das Crossdressingvorbild ihres Vaters, die antifemininen Ideale ihrer Mutter, wie sie sie nennt. Es wird ihr klar, dass sie keine Feministin ist, sondern ein von Selbsthass erfüllter Transvestit. 

Dieser Selbsthass durchzieht das gesamte Buch. Sie erkennt, dass die Frau in ihr im Laufe der Zeit krank geworden ist, weil ihre Belohnung zu gering ausgefallen sei, wie sie es deutet. Sie habe sich aus der Küche und von ihren Kindern ferngehalten, einerseits um der Weiblichkeit ihres Mannes Raum zu lassen, andererseits auch, um ihre männlichen Ansprüche zu besänftigen. 

Die Icherzählerin erkennt, dass sie sich nach jenem Prestige sehnt, das dadurch entstünde, dass man seine Kinder ertrage. Sie ärgert sich, dass der Teil der Hausarbeit, den sie erledigt habe, im Dienst des Prestiges ihres Gatten gestanden und sie darüberhinaus ihre weibliche Seite optisch vernachlässigte habe. Ihre Ehe zerbröselt an ihrer Unzufriedenheit, am Bedürfnis ihre Integrität zurückzugewinnen, wie es scheint. 

Sie unternimmt geistige Spaziergänge ins alte Griechenland und bemüht dort die Sagenwelt, um von hier aus zu Erkenntnissen zu gelangen wie etwa, dass ein Paar, das in der Öffentlichkeit streitet, wie ein blutender Körper anmute. Dabei nennt sie es interessant, wie viel die Menschen verzeihen und tolerieren, so lange sie glauben. Doch sobald sie zweifelten, tolerierten sie nichts mehr. 

Am Beispiel der Griechin Klytaimestra erklärt sie übrigens u.a. den Titel des Buches "Danach". Wo ist das Ereignis, dass zum "Danach" in ihrer Beziehung führte? Um das herauszufinden, empfehle ich den Lesern diese nachdenkliche Lektüre, in der der Schlüssel für offene Fragen vielleicht in nachstehender Passage zu finden ist: 

"Ich stellte fest, dass der Anblick der radelnden Familie das intellektuelle Äquivalent eines starken Drinks erfordert, und ich gönne ihn mir in Form einer antiken Tragödie. Dort gibt es keine aufopfernden Mütter und keine perfekten Kinder, keine beschützerischen, pflichtbewussten Väter und keine öffentliche Moral. Es gibt nur die Gefühle, und den Versuch, sie zu zähmen und zu einer Kraft des Guten umzugestalten. In der stürmischen griechischen Welt der Gefühle, des psychologischen Schicksals und der Verquickung von Sterblichkeit und dem Göttlichen bleibt die Frage nach der Autorität ewig und ungelöst. Es ist eine Frage, die auch mich beschäftigt. Was wird die Autorität sein, und woher soll sie in meinem postfamiliären Haushalt kommen?“ 

Es scheint nicht einfach zu sein, intellektuell und emotional unbeschadet in ein "Danach" zu gelangen, wie dieser Roman verdeutlicht, selbst für sehr nachdenkliche Frauen nicht.

Sehr empfehlenswert. 
Helga König

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Rezension: Die wir liebten-Willi Achten- Piper


Willi Achten, der Autor dieses Romans, lebt im niederländischen Vaals bei Aachen. 

Das Handlungsgeschehen von "Die wir liebten" umfasst die Jahre zwischen 1971- 1976. 

Protagonisten sind die Geschwister Edgar und Roman. 

Edgar, der Ich-Erzähler, wartet mit der packenden Geschichte einer unverbrüchlichen Geschwisterliebe und dem gemeinsamen Ausbruch aus der Provinz auf, in der damals die braune Vergangenheit noch alles andere als aufgearbeitet war. 

Die Gründe für den Ausbruch, der zugleich ein Aufbruch ist, werden im Roman sehr komplex dargestellt, begleitet von Musikstücken, die den Zeitgeist der damaligen, unangepassten Jugend für immer begreifbar machen. 

Die beiden Buben wachsen im Haus ihrer Eltern auf. Dort leben zudem die Großmutter und Tante Mia, deren Bäckereibetrieb vom Vater der beiden Söhne übernommen wurde. Die Ehefrau des Bäckermeisters und Mutter von Edgar und Roman betreibt eine Lottoannahmestelle und ist damit finanziell unabhängig, was der Autor mehrfach betont, wohl deshalb, weil dies zur damaligen Zeit noch nicht unbedingt üblich war. 

Das Familienidyll bröckelt als der Vater sich in die Tierärztin des Ortes verliebt und sich von seiner Frau distanziert. Diese verfällt dadurch immer mehr dem Alkohol, weil sie ihren Kummer verdrängt und mit der Situation nicht zurechtkommt. Sie gehört der Generation an, bei denen Verdrängen zum fatalen Lebensprinzip geworden ist. 

Verlassene Ehefrauen waren zu jener Zeit immer noch gesellschaftlich stigmatisiert, gleichgültig ob sie den Ehebruch des Mannes durch ihr Verhalten forciert hatten oder nicht. Die Stigmatisierung auszuhalten, erforderte viel Kraft, oft zu viel, um das eigene Leben darüberhinaus noch zu meistern. 

Die vergreiste Tante Mia und auch die krebskranke Großmutter sind den Sittenwächtern aus der Nazizeit, es gab sie -zwar äußerlich reingewaschen (Persilschein)- immer noch, ebenso ein Dorn im Auge, wie die zerrüttete Ehe der Eltern. Solche Sündenböcke sind bis heute ein gefundenes Fressen für  Blockwarte aller Art, die  nicht auszusterben scheinen.

Die beiden Jungs mit guten Herzen, - sich selbst überlassen-, landen ihrer Streiche wegen schließlich in einem nahe gelegenen Erziehungsheim, wo sie auf den Grundlagen Schwarzer Pädagogik wie in der NS Zeit auf sadistische Weise abgerichtet werden sollen. 

Ganz allmählich erfährt man mehr über dieses Erziehungsheim, wo zu NS-Zeiten Kinder ermordet wurden, indem man ihnen zu Versuchszwecken Medikamente verabreichte. 

Die alten Kameraden trieben immer noch ihr Unwesen, deckten sich gegenseitig, während Edgar und Roman mancherlei Ungeheuerliches offenlegen, was sie nicht beliebter machte. "Der Bote der schlechten Nachricht…"

Der Schlüsselsatz des Werks lautet übrigens meines Erachtens: 

"Roman ist aus einem besonderen Stoff- dem Stoff, aus dem Widerspruchsgeist und so etwas wie Entschlossenheit und der Mut zur Wahrheit zu stehen. Als Kind hatte Roman geglaubt, unverwundbar zu sein und das Leben sei ein Spiel. Er und ich, wir erkannten lange nicht, welche Kräfte um uns herum wirkten. Kräfte, die uns das Dorf und die Eltern und alle, die wir liebten, nahmen.“ 

Wer so gestrickt ist, hat im Leben stets Probleme und verliert viele und vieles, die bzw. das er liebte. Bleibt festzuhalten: Angepasste Jasager gehen leichter durchs Leben, wenn auch mit krummem Rücken.

Maximal empfehlenswert.
Helga König

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Rezension: André Heller: Zum Weinen schön, zum Lachen bitter- Erzählungen- Zsolnay


Autor dieser Erzählungen ist der Künstler #André_Heller. Er lebt abwechselnd in Wien, Marrakesch oder ist auf Reisen. Seine Erzählungen in diesem Buch stammen aus vielen Jahrzehnten.

Bemerkenswert ist, dass diesem Schriftsteller in all den Jahren die poetische und zugleich polemische  Art zu schreiben nicht abhanden gekommen ist. Sie scheint ein unverbrüchlicher Teil seines Selbst zu sein. 

Die Erzählungen sind nicht nach dem Entstehungsdatum geordnet, so dass man nicht unbedingt beim ersten Text beginnen muss. So schreibt er 1990 in der Erzählung "K. U. K. –Ein Monolog" viel Wissenswertes über einen guten Kellner in Wien, dessen Vorahnungen tief ins "Hellseherische" gehen und lässt ihn erzählen. 

Da liest man dann, diesem fiktiven Kellner in den Mund gelegte Sätze wie etwa, "Neunzig Prozent aller Stammgäste hausen eines Tages auf den Trümmern ihrer ehemaligen Pläne und Begeisterungen"  und denkt "eine ganz schön dreiste Behauptung", mit der der Kellner die Augenhöhe zum Gast verlässt. 

Für diesen Kellner sind nicht die Betrunkenen, sondern die Schikanierer die Ärgsten, "die glauben, sie gelten als Herren, wenn sie jemand den Herren zeigen." Nörgler nerven allerorten, genau aus diesem Grund. Das Schwache gebärdet sich stark. Wer dies erkennt, ist unbeeindruckt.  

Der Autor beobachtet sehr genau, das dokumentieren all seine Geschichten, die einfach Anekdotisches mit Autobiografischem vermischen, die Bilder und Porträts seiner Welt beinhalten, die Vergangenheit in die Gegenwart holen und die Ferne in die Nähe, wie das kurz seitens Zsolnay auf den Punkt gebracht wird. 

Wie poetisch Heller schreibt, zeigt sich besonders in der Erzählung  "Über Clowns" aus dem Jahre 2002. Hier philosophiert er "Aber diese alltägliche Welt, die wir allzu gut zu kennen meinen, es ist dieselbe, die einzige Welt voll Magie, voll unausschöpflichen Zaubers. Wie ein Clown führen wir unsere Bewegungen aus, täuschen wir vor, bemühen wir uns, das große Ereignis hinauszuschieben. Wir sterben in den Wehen unserer Geburt. Wir sind niemals gewesen, wir sind auch jetzt nicht. Wir sind immerzu im Werden, immerzu einsam und losgelöst. Für immer außen.“ Ein  Gedanke, der  unsere Zeit passt und hier an Gewicht bekommt.

Solche Sätze wirken-  gerade jetzt -  lange nach. 

Am Ende der Textsammlung schreibt Franz Schuh über den Autor, dass dieser seinen polemischen Zeiten von früher ade gesagt habe, jedoch seine Erzählungen zu seiner Freude noch genügend polemische Energie hätten, um beim Leser Widerspruch hervorzurufen. Doch um dies zu beurteilen, lesen Sie bitte selbst. 

Sehr empfehlenswert 

 Helga König

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Rezension: Leben in allen Himmelsrichtungen- Andreas Altmann- Reportagen- Piper

#Andreas_Altmann ist einer der renommiertesten deutschen Reisebuchautoren, der mit vielen Preisen ausgezeichnet wurde, so etwa dem Egon-Erwin-Kisch-Preis, dem Seume-Literaturpreis und dem Reisebuchpreis. 

In den vorliegenden Reportagen nimmt der Autor die Leser mit in die ganze Welt und lässt sie hier Anteil nehmen, an dem, was er sieht und erlebt, auch welche Menschen ihm begegnen und welche Eindrücke sie bei ihm hinterlassen. Dabei untergliedert er die Reportagen thematisch in neun Kapitel und gibt dem Leser freie Hand, womit er beginnen möchte. 

Im Vorwort bekundet Altmann, dass er stets die liebt, die zum Leben anstacheln und jenen Damen und Herren aus dem Weg geht, die es verhindern. Sein Ziel sei es, ein Lebensbuch nach dem anderen in die Welt zu schicken, in der Hoffnung, dass die Leser sich mitreißen lassen von der Sehnsucht nach Innigkeit und Anderssein. Sein Buch versammelt Geschichten von Leuten, die leben und gelebt haben, nicht selten vom Risiko überschattet. 

Altmann denkt übers Schreiben nach und konstatiert, dass Texte immer besser werden, wenn man sie mit Detailhuberei verschone. Genau das macht seine Texte so lesenswert. Sie befassen sich mit Wesentlichem und entziehen sich jedem Versuch der  Wortschwallerei. 

Ich habe das Buch zunächst durchgeblättert, weil ich mit der Reportage in die Reiseerlebnisse Altmanns einsteigen wollte, die mich von den ersten Sätzen am meisten packte. So entschied ich mich zu "Äthiopien- Eine Reise in tausend Geheimnisse". Den Textbeginn postete ich dieser Tage auf Twitter, um Neugierde auf das Buch zu wecken: "Immer will ich schreiben gegen die Schwerkraft des Herzens. Will zeigen dass die Welt einen Sinn hat und das Menschenleben irgendwo ein Ziel. Wir glauben, dass irgendwann alles gut ausgeht, und jeder so lebt, wie er sich das einst vorgestellt hat. Aber ich strauchle, stündlich. Mein Plädoyer klingt matt. Statt souveräner Rede stottere ich. Jeder Leimsieder weiß es besser, redet eleganter vom Unglück und der Ausweglosigkeit unserer Existenz. Wie ich dann schrumpfe. Jeder Blick auf die Erde. Jede Nahaufnahme beschädigten Daseins gibt ihm tausend Mal recht. Der portugiesische Dichter Fernando Pessoa notierte einmal, dass wir alle zwei Leben haben: "Eines, das wir träumen, und ein anderes, das uns ins Grab bringt." 

Andreas Altmann breitet dann auf wenigen Seiten Geheimnisvolles  aus Äthiopien aus, vergisst dabei den Blick in die Vergangenheit nicht, die das Jetzt dieses Landes verständlich macht. Zeile für Zeile begreift man das Anliegen dieses Reiseschriftstellers mehr:  "Die Welt anschauen: Ziegenböcke, die im Straßengraben kämpfen. Frauen, die im Dorftümpel die Wäsche waschen. Mädchen, die mit Eselskot die Felder düngen. Kuhhirten, die ihre Kalaschnikow reinigen. Mütter, die ihren Kindern- Läuse plagen- eine Glatze schneiden. Eine Greisin, die mir dreimal ins Gesicht spuckt, ah, der Speichel soll Glück bringen. Alte Männer, die ihre Hand heben und "welcome“ rufen.  Jedes Mal überkommt mich in solchen Augenblicken die kleine Lust, mir einen Afrikaner vorzustellen, der mit seinem Rucksack durch Deutschland spaziert und von deutschen Rentnern mit "Willkommen" begrüßt wird."  Er überlässt es dem Leser, darüber kritisch weiterzudenken. Seine Aufgabe: Durch Bilder Denkvorgänge anstoßen. Das gelingt ihm immerfort vortrefflich.

Am nächsten Abend las ich über die Unberührbaren in Indien. Anderen die Würde zu nehmen, ist so alt wie die Welt und Ziel jener, die sich auf Kosten anderer erhöhen wollen.  Unendlich kränkend für alle, die von Geburt an ausgegrenzt werden und denen die Chance genommen wird, ihren Anlagen gemäß zu leben. Sich damit abfinden, gelingt nicht jedem. Gott sei Dank. Manche machen sich auf den Weg und das ist gut so.

Andreas Altmann ist in der Welt zuhause. Sogar die Buchinger Klinik hat er aufgesucht und schreibt über das, was er dort erlebt, ebenso fair beobachtend, wie über Karla Schefter, die in Afghanistan 1989 ein Krankenhaus gegründet hat. 

Von Bagdad nach Trinidad, dann später irgendwann nach Louisiana, auch nach Kapstadt, findet der Leser sich alsbald im Sudan wieder und hier in Mapel, einem Savannendorf, wo "Ärzte ohne Grenzen" und UDA gemeinsam ein Camp aufgeschlagen haben. Sie kümmern sich um die medizinische Versorgung der Bevölkerung und um den Nachschub von Lebensmitteln. 

Der feinsinnige Reporter geht bei seinen Bildern extrem nah heran, um auf diese Weise Vielfalt zu zeigen und an die Mitmenschlichkeit zu appellieren, die an vielen anderen Orten, über die er berichtet,  auch nur selten zu finden ist. 

Andreas Altmann geht gedanklich in die Tiefe und schreibt dabei leichtfüßig, so als sei er durch die Welt getanzt. Er zählt  zu den  besonderen Menschen mit einem harten Geist und einem weichen Herzen. Davon gibt es nicht viele und nur wenige, die so brillant schreiben können wie er. 

Maximal empfehlenswert 

Helga König

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Rezension: Mein Fall- Josef Haslinger-S.Fischer



Der Autor des Textes "Mein Fall", der Schriftsteller #Josef_Haslinger, lehrt seit 1996 als Professor für literarische Ästhetik am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Er erhielt für seine Bücher zahlreiche Preise, u.a. den Preis der Stadt Wien, den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels und den Rheingau Literaturpreis. 2010 war er Mainzer Stadtschreiber. 

In seinem neuen Text berichtet er u.a. wie er als Schüler des #Sängerknabenkonvikts Stift Zwettel seitens katholischer Geistlicher sexuell missbraucht und darüberhinaus körperlich gezüchtigt wurde.

Josef Haslinger, geboren 1955 in Niederösterreich, hat sich erst 2018 dazu entschieden, sich an die "Unabhängige Opferschutzanwaltschaft, eine Initiative gegen Missbrauch und Gewalt" in Sachen Kindesmissbrauch zu wenden. Er schreibt über die Gespräche, die er dort führte und die Entscheidung, das, was er als Kind und Jugendlicher im Zisterzienserkloster erlebte, in einem Buch festzuhalten. Das alles geschieht aber erst, nachdem die Täter alle verstorben waren.

Pater Gottfried, sein damaliger persönlicher religiöser Berater, war wie diverse andere Geistliche pädophil und nutzte seine Position aus, um den kleinen Josef sexuell zu missbrauchen. Haslinger schreibt, dass er glaube, in jener Zeit tief religiös gewesen zu sein, insofern auch sei der Religionslehrer für ihn eine umfassende Autorität gewesen. 

Es scheint nicht so einfach für Josef Haslinger zu sein, die vielen verdrängten Erinnerungen wieder in sein Bewusstsein zu bringen. Lange hatte er sich mit den Tätern identifiziert, sie geradezu in Schutz genommen, wollte sie nicht kompromittieren. Es dauerte Jahre bis er innerlich akzeptierte, dass es keine einvernehmliche sexuelle Beziehung zwischen einem Neunundzwanzigjährigen und einem Elfjährigen geben kann. Haslinger wollte sich nicht ohnmächtig als Opfer begreifen, was er aber faktisch war. 

In einem Artikel, den er für das von Rotraud A Perner herausgegebene Buch mit dem Titel "Kirche-Täter-Opfer" schrieb, meint er, dass er die damaligen sexuellen Übergriffe in gewisser Weise als eine Art Auszeichnung empfunden habe. Da er als Schüler ein sehr religiöser Mensch war, der selbst Priester werden wollte, betrachtet er die einstige "moralische Verstörung" weitaus übler als die "erotische Konfusion". Im Nachhinein denkt er, dass vor allem "das ständige Erniedrigtwerden bis hin zur allgegenwärtigen körperlichen Züchtigung" später seine Hassgefühle hat wachsen lassen. Er interpretiert in seinem Artikel, das Verhalten der Pädophilen in der Sphäre von klösterlicher Gewalt als eine "Oase der Zärtlichkeit". Das Kloster sei ein "Exzess in dieser und jener Richtung" gewesen. Haslingers sexuelles Wohlverhalten sei damit belohnt worden, dass er jemand hatte, der sich um ihn kümmerte. 

Der Autor bindet  auch einen Text des Soziologen Gerhardt Amendt in "Mein Fall" ein, der kritisch mit Haslingers Erinnerungen umgeht und verdeutlicht, weshalb der sexuell Missbrauchte gegen die zugefügte Sexualisierung, den Vertrauensbruch und die Ausnutzung seiner kindlichen Sehnsucht nach Zärtlichkeit noch nicht wortgewaltig protestieren könne, weshalb er seine innere Freiheit so dringend wiederherstellen müsse. 

Muss man Empathie mit den Tätern haben, wenn man weiß, dass Pädophilie und Pädosexualität Persönlichkeitsmerkmale sind, die nicht wegtherapiert werden können? 

Empathie:Ja. Zugeständnisse machen, allerdings: Nein. Das Wohl der Schützlinge steht hier eindeutig im Vordergrund.

Damit dem Leser auch tatsächlich bewusst wird, was man unter sexuellem Missbrauch zu verstehen hat, informiert Haslinger mit der entsprechenden Textstelle aus einem Infoblatt der "Ombudstelle für Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch": 

"Sexueller Missbrauch beinhaltet: wenn  Betroffene von Täter/innen 
 zu deren sexueller Erregung 
- beobachtet, berührt oder im Intimbereich angegriffen werden
- zu sexuellen Praktiken gezwungen oder überredet werden 

oder wenn Betroffene gezwungen werden, den Täter/die Täterin
nackt zu betrachten 
oder bei sexuellen Praktiken zuzusehen" 

Haslinger schreibt nicht nur vom sexuellen Missbrauch der Geistlichen, sondern auch davon, dass er Masturbationshelfer bei Mitschülern war und von daher überzeugt gewesen ist, homosexuell zu sein, was aber keineswegs so war. So verwirrt hatten die pädophilen Geistlichen ihn.

Wie der Autor anmerkt, wurde die Hälfte aller kirchlichen Missbrauchsfälle in Einrichtungen von Männerordnen begangen. Offenbar fühlen sich Pädophile von diesen Orten angezogen.

Daneben erlebt Haslinger noch ein schreckliches Bestrafungssystem. Das in "verschiedene Stufen von körperlicher und psychischer Gewalt" untergliedert war. In jener Zeit war dies allerorten üblich und wurde von den Erwachsenen selten in Frage gestellt. 

Auch hier findet man eine Definition in Buch: "Körperliche und seelische Gewalt beinhaltet z.B.: Ohrfeigen, Schläge, absichtliches Stoßen, Würgen, Festhalten, Einsperren, Essen, Getränke und Schlaf entziehen; Verängstigungen, Drohungen, Erpressungen, Verleumdungen, Beschimpfungen, Demütigungen und Verspottung."

Was Josef Haslinger und andere Schüler in jener Zeit ertragen mussten, wird spätestens nach diesem Buch klar. Vor allem, die Wechselwirkung von sexuellen Übergriffen einerseits und Gewalttätigkeiten andererseits zu verarbeiten, dürfte alles andere als  leicht gewesen sein. 

Welche Konsequenzen ergeben sich aus den Erfahrungen, die in diesem Buch niedergeschrieben sind? Mit Aufklärung und Verboten scheint man das Problem der Pädophilie nicht lösen zu können, da es sich um einen genetischen Defekt handelt. Ein offener Umgang mit allen Missbrauchsfällen ist zwingend notwendig.  Doch auch dies löst das Problem nicht vollständig.

Herrn Haslinger und seinen ebenfalls betroffenen Mitschülern  gilt mein tiefes Mitgefühl. Pädophilen Geistlichen  kann man nur raten, sich  ohne Wenn und Aber an das Keuschheitsgebot zu halten. Das gebietet die Wertschätzung, nicht nur den Kindern gegenüber, sondern auch der Kirche, die durch sie in große Konflikte gerät.

Maximal  empfehlenswert
Helga König

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Rezension: Ich blieb in Auschwitz-Aufzeichnungen eines Überlebenden-Eddy de Wind-Piper

Eddy de Wind (1916-1987), der Autor dieses Buches, war ein niederländischer Arzt jüdischer Herkunft, der die Hölle von Auschwitz überlebt und nach dem Krieg als Psychiater und Psychoanalytiker in seiner Heimat gearbeitet hat. Dabei hat die Behandlung von Patienten, die unter Kriegstraumata litten, den Schwerpunkt seiner Tätigkeit gebildet. 

Eddy de Wind, der gemeinsam mit seiner Frau Friedel 1943 nach Auschwitz verschleppt wurde, erzählt in seinen Aufzeichnungen, was er im Lager erlebte. Er dokumentiert dort die furchtbaren Geschehnisse unmittelbar nach Abzug der Deutschen in einer Kladde, wobei er seinen Erzähler Hans nennt, offenbar um auf diese Weise Abstand von dem täglichen Trauma zu gewinnen, das ihn an diesem horriblen Ort aufgrund des Erlebten befällt. Der Text des KZ-Häftlings wurde nicht verändert und blieb unberührt von sich wandelnden Erinnerungen oder Erkenntnissen. 

Die Nazischergen waren, wie man erfährt, morgens bösartig und abends brandgefährlich, denn dann waren sie zumeist betrunken. Was das real bedeutete, dokumentiert der Autor Seite für Seite. Für einen mitfühlenden Leser wird der Text zu einem Alptraum. Der Abgrund, in den man hier schaut, ist kaum auszuhalten. Das Buch an zwei Abenden zu lesen, ist deshalb unmöglich.

Die Erfahrung von Eddy de Wind: "Der Hang zur Grausamkeit, der bei jedem zivilisierten Menschen von klein und systematisch von der Umgebung und durch Erziehungsmaßnahmen unterdrückt wird, war im deutschen Volk bewusst entfesselt worden. Die nationalsozialistische Moral und der unvermeidliche Alkohol verwandelten die Menschen in Teufel."

Der Schlüsselsatz: "Der Nazi fällt ohne jede Rechtfertigung über wehrlose Opfer her." 

Ich möchte die im Buch aufgezeichneten Grausamkeiten hier nicht näher beschreiben, denn man wird mit so vielen Ungeheuerlichkeiten seitens der Nazischergen konfrontiert, dass man nicht aufhört, sich zu schämen, dass Menschen ihren Mitmenschen dergleichen antun können. 

Doch Auschwitz war, wie de Wind notiert, mehr als nur Quälerei in riesigem Maßstab. Mit seinen Fabriken und Minen sei es ein wichtiger Bestandteil der oberschlesischen Industrie gewesen. Die KZ-Häftlinge waren billige Arbeiter, bekamen keinen Lohn und aßen so gut wie nichts. Sobald sie ausgezehrt und der Gaskammer zum Opfer gefallen waren, "gab es in Europa noch genügend andere Juden und politische Gegner, die sie ersetzen konnten."

Man liest von der Angst und den Selektionen, der fortdauernden Brutalität. Wer die Niedertracht der Nazis anprangerte, hatte in Deutschland keine ruhige Minute mehr und im KZ ohnehin nicht. 

Bei der SS wusste man nie, woran man war, schreibt de Wind und berichtet von deren subtiler Gemeinheit. Sehr gut veranschaulicht er dies am Beispiel des Lagerarztes Mengele, dessen spontanes, fast menschliches Verhalten in einer Ausnahme verdeutlicht, dass er auch anders konnte. Dadurch aber wird erst erkennbar, wie bewusst verwerflich und niederträchtig dieser Satan tatsächlich gehandelt hat. 

Die Geschichte von Friedel und Hans zeigt, was schweres Leid mit einer Liebe machen kann und dass Rettung aus der Hölle nicht zwingend zur Rettung einer Liebe führt.

Zu viel Belastung, egal welcher Art, bewirkt, dass das zu viel Belastete zerbricht. Warum sollte dies in der Liebe anders sein?   

Sehr empfehlenswert, doch kaum auszuhalten. 

Helga König

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