Der Autor des vorliegenden Romans mit dem Titel "In einer dunkelblauen Stunde" ist der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm.
Es handelt sich bei diesem Buch um die Geschichte einer beruflich gescheiterten Regisseurin, aber es ist auch die Geschichte einer am Glauben gescheiterten evangelischen Pfarrerin und schließlich die Geschichte eines erfolgreichen, jedoch am Leben gescheiterten Schweizer Autors.
Die Ich-Erzählerin, die Regisseurin Andrea, eine Frau mit abgebrochenem Studium, möchte mit ihrem Team einen Film über den Schweizer Autor Richard Wechsler drehen, doch dieser entzieht sich recht bald den Aufnahmen, die in Paris, wo er zumeist lebt, realisiert werden sollen.
Da Wechsler, -ein Eigenbrötler-, wenig von sich preisgibt, wird es immer schwieriger das Filmvorhaben zu realisieren.
Hinzu kommt, dass die Liebesbeziehung zu Tom, die Andrea zu diesem Zeitpunkt gerade hat, sich im Auflösungsprozess befindet. Alles nicht so prickelnd für Andrea, die gottlob über genügend Leichtigkeit verfügt, um sich - pragmatisch- auf weniger berauschend Neues einzulassen, sowohl beruflich als auch privat, nachdem das, was sie gerade erlebt, sich als zukunftslos erweist.
Bleiben ihr doch noch immer ihre Traumwelten, wo alles möglich ist. In diese Welten lässt uns Peter Stamm eintauchen.
Um mehr über Wechsler zu erfahren, liest Andrea dessen Bücher und entdeckt Hinweise auf eine Jugendliebe, die in seinen Büchern offenbar verschlüsselt stets auf Neue vorkommt. Andrea findet diese Frau, sie heißt Judith, eine evangelische Pfarrerin, verheiratet mit einem Lehrer, mit dem sie zwei Töchter hat und erfährt im Laufe des Handlungsgeschehens mehr über sie und deren Beziehung zu Wechsler, die bis zu dessen Ableben angedauert hat…
Der Schriftsteller hat Judith in Paris schwarze Dessous geschenkt, liest man und denkt sich amüsiert, ein nettes Präsent für eine evangelische Pfarrerin aus der Schweiz… Wie tief die Liebesbeziehung war, hat Wechsler offenbar seinen Büchern anvertraut.
Andrea und Judith verbindet recht bald eine Freundschaft, in der Wechsler immer mehr in den Hintergrund tritt. Er ist tot, war es vermutlich schon in der Endzeit seiner Schreibkarriere.
Immer wieder stolpert man im Laufe eines eher ruhigen Handlungsgeschehens, in dem kaum etwas Nennenswertes geschieht, über kluge und zugleich melancholische Sätze, wie etwa "Die fiktive Welt hat etwas Verführerisches, sie erfüllt einem alle Wünsche. Man kann nicht sterben in ihr, aber man kann auch nicht leben."
Andreas Welt ist ein Wechselbad zwischen einer realen Welt unerfüllter Wünsche und einer fiktiven, in der vieles für sie möglich ist. Doch sie geht anders damit um als Richard Wechsler. Vielleicht weil sie letztlich überbordende Lebensfreude besitzt und er wohl eher Vergänglichkeitsangst, die sich im Schreiben immer neuer Bücher äußert.
Andrea führt Selbstgespräche oder Gespräche mit Dritten über Dokumentarfilme, Wechsler philosophiert über die Welt der Bücher, Judith über den Glauben, alles recht beiläufig. Denn worum es geht eigentlich?
Um die Alltäglichkeiten, die das Leben ausmachen, um das angebrochene Glas Sambal Olek im Kühlschrank. Vielleicht auch darum, aufzuzeigen, dass die Traumzeiten das Wesentlichste in einem Künstlerleben sind, wenn er produktiv bleiben möchte und auch darum, dass ein Schriftsteller, der sich selbst nicht so wichtig nimmt, hinter seinem Werk zurücktritt, als Person nicht gesehen werden möchte, in die Großstadt ein- und im Grunde untertaucht, um zu schreiben und ungestört seinem Alltag nachzugehen.
Die Gegenwelt ist das Dorf, wo jeder jeden kennt und wo Wechsler bestattet wird, fernab der Großstadt- Anonymität. Dort, wo seine Stimme nicht verstummt, auch wenn er schon lange tot ist und seine Bücher den Weg alles Irdischen gegangen sind, dort wo er keine verlassenen Spielplätze gibt, aber das vorbehaltlose Ja zur Erinnerung an das, was den Menschen eigentlich ausmacht.
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Helga König