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Rezension: Die Enkelin-Bernhard Schlink-Diogenes


Bernhard Schlink hat mit "Die Enkelin" einen überaus komplexen Roman verfasst, der sich mit ideologischen Irrwegen auseinandersetzt und zeigt, was Despotie und Verblendung, Ignoranz aber auch ideologische Verführung, speziell bei jungen Menschen bewirken kann. 

Haltlosigkeit als Folge autoritärer Erziehung wird in unterschiedlichen Schattierungen veranschaulicht, ein Phänomen, das Menschen weit weg von ihrer Mitte und ihren Begabungen irgendwo stranden und zutiefst depressiv werden lässt. 

Die Romanhandlung beginnt mit dem Tod Birgits, der langjährigen Ehefrau des Buchhändlers Kaspar. Die beiden haben sich - damals, noch Studenten- in Ostberlin kennengelernt und ineinander verliebt. Kaspar studierte im Westen, Birgit im Osten der Stadt. Beide schätzten in jenen Tagen bereits die Sprache, vor allem Gedichte, kommen sich intellektuell und schließlich auch emotional über dieses Medium näher. 

Die beiden entscheiden sich für eine gemeinsame Zukunft und Birgit sich zur Flucht aus der DDR. In ihren Aufzeichnungen schreibt sie, dass sie damals in den 1960er Jahren im Osten noch nicht wusste, wie es um die DDR tatsächlich bestellt war, sie aber im Nachhinein froh gewesen sei- bei allen Möglichkeiten, die sich ihr vielleicht dort  geboten hätten, dass sie nicht geblieben sei. Rückblickend resümiert sie: "Die DDR macht mich traurig."

Birgit hat vor ihrem Ableben an einem Roman geschrieben, über dessen Inhalt Kaspar nichts wusste. Als er nun den Inhalt kennenlernt, weiß er, dass Birgits Depressionen mit ihrem Geheimnis zu tun hatten, dass sie seit ihrer Flucht in den Westen mit sich herumtrug. Die Ostdeutsche war nämlich bereits schwanger als sie Kaspar kennenlernte, verschwieg ihm dies aber und brachte das Kind mithilfe einer Freundin zur Welt. Sie vertraut der Freundin, einer Krankenschwester, das Mädchen an, mit der Bitte es in einer "Klappe" abzugeben und bereitet sich in den Monaten danach auf die Flucht in den Westen vor.

Birgit schweigt und handelt aus Angst, dass Kaspar sich von ihr abwenden würde, wenn sie ihm reinen Wein einschenkt. In ihren Aufzeichnungen, die Gegenstand des Romans sind, entnimmt man, wie sehr sie sich mit ihrer damaligen Entscheidung auseinandergesetzte, die sie innerlich mit der Zeit zerrissen hat und  haltlos zur heimlichen Trinkerin hat werden lassen. 

Sie glaubt im Hinblick auf Kaspar: "Manchmal habe ich in den Jahren unserer Ehe gedacht, Kaspar weiß es, tiefdrinnen, tiefdrunten, und hat es vor seinem Leben ebenso verborgen, wie ich es vor meinem Leben verborgen habe. Ich habe gedacht, dass er es mir angemerkt haben muss, dass ich ein Geheimnis verberge, und er aus Liebe nicht daran gerührt hat, bis ihn die Liebe hat wissen lassen, was es ist. Dass er es dann mit mir geteilt hat, man kann ohne Worte und Gesten teilen, und mit mir getragen, und dass er deshalb so behutsam mit mir war. Ich weiß, er war auch behutsam mit mir, weil ihn, was ich gemacht habe, verwirrt hat. Die Buchhandlung verlassen, nach Indien gehen, goldschmieden, kochen, schreiben- und er hat nicht verstanden, was mich getrieben hat, und hat Angst gehabt, es würde mich wegtreiben. Er war auch behutsam, weil er mich nicht verlieren wollte. Aber manchmal dachte ich, das sei nicht alles."

Ihr Geheimnis vertraut Birgit einzig ihrem Computer an. Dort entdeckt Kaspar es nach ihrem Tod und macht sich auf die Suche nach seiner Stieftochter, die ähnlich zerrissen wie ihre Mutter, schließlich Halt bei einem Rechtsradikalen zu finden meint, in dessen ideologische Absurd-Welt abdriftet und diese sogar mitträgt. 

Ihre gemeinsame Tochter  Sigrun erziehen die verblendeten Eltern "völkisch", sprich rechtsradikal und hämmern Nazigedankengut in ihren noch arglosen Kopf ein. Da dieses Mädchen bis dahin keinen Außenkontakt hat, glaubt sie an den Irrsinn.

Kaspar gelingt es mittels Bestechung des geldgeilen Vaters, das Enkelkind in den Ferien loszueisen und zu sich in seine stille Bücherwelt mit zu nehmen. Hier versucht Kaspar ihr aufklärende Literatur und vor allem klassische  Musik näherzubringen. 

Recht bald erhält Sigrun Musikunterricht und rasch stellt sich heraus, dass sie überdurchschnittlich begabt ist. 

Doch selbst die Musik und all das, was  Kaspar Sigrun kulturell entgegenbringt, reichen nicht aus, sie von der ideologischen Gehirnwäsche, in der Nibelungentreue eine zentrale Rolle spielt, zu erlösen….

Kann Kaspar Sigrun dennoch retten? Oder findet die Enkelin letztlich ihren eigenen Weg, weit weg von ihrer völkischen Sozialisation, mündig zu werden? 

Doch lesen Sie bitte selbst… 

Erneut hat Bernhard Schlink Charaktere geschaffen, die ähnlich wie "Die Vorleserin" lange über das Kriterium der selbstverschuldeten Unmündigkeit nachdenken lassen. Sich selbst aus dieser zu befreien, bedeutet letztlich erwachsen und reif für eine Welt zu werden, in  der Humanismus von allen gelebt wird. 

Für Menschen mit autoritärer Sozialisation ist das alles andere als ein Spaziergang bei Sonnenschein...

Maximal empfehlenswert 

Helga König

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