Stefan Hertmans ist Belgier und gilt als einer der wichtigsten niederländisch-sprachigen Autoren der Gegenwart. Seine hier vorliegenden 19 Essays wurden von Ira Wilhelm aus dem Niederländischen übersetzt und beginnen mit einem Vorwort Hertmans, in dem er bekundet, dass wir in einer Zeit des Übergangs lebten und auf etwas zusteuerten, was wir erst in Ansätzen begreifen würden. Weil manches verschwände und anderes entstehe, sei es sinnvoll, Gedanken und Perspektiven gegeneinander abzuwägen.
Genau das geschieht in den 19 spannend zu lesenden Essays. Sie beginnen mit dem Satz:"Unsere Zeit wird von drei großen Themen bestimmt: vom Klimawandel, von der Krise der neoliberalen Weltordnung und von der Migration."
Alsdann geht der Autor auf diese Themen näher ein. Im Grunde sähe alles geradezu bedrohlich aus. So fänden sich in den Gewässern selbst an den Enden der Welt Spuren von Medikamenten, deren Auswirkungen auf die DNA vieler Tierarten noch nicht abzusehen seien. Dies könne sich auf die ärmere Bevölkerung des globalen Südens verheerend auswirken, weil sich durch das Massenaussterben von Tieren eine Katastrophe für die Nahrungskette anbahne. Erkannt werden müsse, dass das Ausbeutungsmodell- der Verbrauch sämtlicher Ressourcen seitens der Industrieländer- nicht mehr funktioniere und der Mensch begreifen müsse, dass es keinen Planeten B für ihn gibt. Wie recht er doch hat!
Sehr lesenswert auch ist der 2. Essay mit dem Titel "Intimität und Ausgeliefertsein". Hier zeigt der Autor auf, welche Folgen die totale Öffentlichkeit habe, in der dem kontrollierenden Blick nichts mehr entgehe. Die Intoleranz gegenüber der Andersartigkeit der anderen wachse auch deshalb zusehends. Der soziale Raum verkomme zu einer"Arena für das Ego", das sich weigere den Unterschied zwischen dem Eigenen und Anderen zu erkennen. Dahinter stehe das Versprechen des Neoliberalismus, wonach nur noch die eigenen Wünsche und Bedürfnisse zählten. Wenn die eigene Wohnung überhaupt nicht mehr verlassen werden müsse, man nur noch online shoppe, weil man die Existenz des anderen nicht mehr ertragen könne, sei das Ziel erreicht: der Mensch sei dort, wo er sein soll, in einer Welt ohne die anderen, in einer Welt in der man alles kaufen könne außer dem Menschsein.“
Unmöglich, im Rahmen der Rezension nun alle 19 Essays zu streifen! So erfährt man im Essay "Himmelshaken und irdische Kräne" u.a., dass Wissen dem Vermögen, Wissen zu ordnen entspränge und der Kunst, das Denken nicht losgelöst von der Erfahrung zu betrachten. Wissen sei nicht, was man wisse, sondern wie man wisse. Wissen entstehe mithin durch Erkenntnis. Das sehe ich auch so.
Auch stimme ich Hertmans Gedanken zu, dass der Zugang zur Kultur durch die Fähigkeit bestimmt werde, lesen und schreiben, allerdings auch kritisch lesen zu können.
Wichtig: Komplexe soziologische Verschiebungen fänden derzeit statt, erfährt man in einem weiteren Essay. Von Blasen ist die Rede, in der man geformt und beeinflusst werde und es sei ausgerechnet diese scheinbare Zusammengehörigkeit, die unsere große Einsamkeit verursache. Wie fühlt man diese? Macht sie depressiv?
Analysiert wird in einem der folgenden Essays die sogenannte "Klick-Politik" und hier liest man den spannenden Satz: "Der Tanz der Algorithmen ist auch dafür verantwortlich, dass sich orientierungslose Menschen, die ziellos im Netz surfen, radikalisieren". Beobachtungen dieser Art habe ich im Laufe der Jahre auch immer wieder gemacht und mich nur noch gewundert über die Wandlung vermeintlicher Gesinnung..
Ach ja, ... und man liest weiter, dass Freiheit neuerdings nicht nur die gleiche Freiheit für alle, sondern zudem auch einen Kampf um kulturelle Souveränität bedeute und dies nicht geringe Probleme mit sich brächte. Wo endet die Freiheit in einer gut funktionierenden Demokratie?
Es führt zu weit auf all die komplexen Themen des Buches an dieser Stelle einzugehen. Folgte ich meinen vielen Notizen dazu, wäre die Rezension mehr als nur zu umfangreich.
Soviel nur: Das Werk ist ein Leckerbissen für Intellektuelle.
Fast am Ende liest man von der "Heilstätte der Seele", deren dort angesammeltes Wissen für unsere Weltkultur einst verloren ging, weil sie Vandalen zum Opfer fiel, die kaum oder gar nicht lesen konnten. Verursacht wurde dieser Verlust wie man liest durch die Gleichgültigkeit und mangelndes Geschichtsbewusstsein. Das sollte zu denken geben.
Helga König