Ich wundere mich eigentlich immer noch, dass ich dieses Buch erst jetzt gelesen habe.
Reich-Ranicki kommentierte einst: "Ein hocherotischer Roman. Ich habe eine solche Liebesszene seit Jahren nicht mehr gelesen."
Ich auch nicht, lieber Herr Reich-Ranicki.
Die Liebesszene war es allerdings nicht, die mich dazu bewegte, mich intellektuell mit dem Buch zu befassen, sondern mich berührten Murakamis bemerkenswerte Betrachtungen über die reinste Form der Liebe.
Diese scheint- Platon wusste es bereits und ich habe es durch diesen Roman auch irgendwie begriffen -, eine ausschließlich geistig-seelische Angelegenheit zwischen zwei Menschen zu sein. Warum?
Zum Buch: Hajime, ein Einzelkind übrigens, begegnet als Zwölfjähriger der wunderschönen, leicht gehbehinderten Shimamoto, die ebenfalls ein Einzelkind ist. Murakami erwähnt dies nicht ohne Grund mehrmals.
Fast täglich treffen die beiden sich, hören gemeinsam Musik und sprechen über Bücher, die sie beide gelesen haben. Innige Freunde sind sie, sogar mehr als das. Die gegenseitige Anziehung ist spürbar, aber sie zeigt sich nicht in sexueller Handlung.
Als Hajimes Eltern in eine andere Gegend ziehen, sehen sich die beiden jungen Menschen nicht mehr. Beide leiden unendlich an ihrer Sehnsucht zueinander.
Hajime, der Ich-Erzähler, beginnt von seinem sinnentleerten Leben zu berichten, bis zu dem Tag, der erst 24 Jahre später eintreten soll, als er seine zweite Hälfte (um im Bild Platons zu sprechen) wiederfindet und sie in diesem Leben dann doch vielleicht für immer zu verlieren scheint.
Hajime erzählt von seinen facettenreichen Erfahrungen mit Frauen während seiner College-Zeit und immer wieder von seiner nicht enden wollenden Sehnsucht nach Shimamoto.
Irgendwann verliebt er sich in Izumi, vollzieht mit diesem Mädchen seinen ersten Beischlaf, wird ihr untreu, weil er sich sexuell magisch von deren Cousine angezogen fühlt und vögelt mit dieser, wie er schreibt, geradezu bis zur Hirnerweichung.
Das Mädchen, das er betrogen hat, verlässt ihn und wird über den vermeintlichen Verrat nicht hinwegkommen. Sie zerbricht an dem, was geschehen ist. Hajime hat wegen dieser Geschehnisse noch während der Erzählzeit ein schlechtes Gewissen. Im Grunde jedoch hat er dieses Mädchen nicht wirklich betrogen, denn der Akt mit der Cousine war ein emotionsloser, rein mechanischer Lustakt.
Hajime sieht diese Affäre getrennt von seiner gefühlsorientierten Beziehung zu Izumi. Leider ist diese Gegebenheit für Izumi nicht nachvollziehbar, weil ihre Verliebtheit besitzergreifenden Charakter hat.
Nach dem College arbeitet Hajime eine Weile als Lektor in einem Schulbuchverlag, nach wie vor verzehrt er sich nach Shimamoto, die ihm irgendwann zufällig in Tokio begegnet. Er erkennt sie zu spät und wird tragischerweise durch ein merkwürdiges Ereignis daran gehindert, ihr nachzueilen.
Nun zwingt Hajime sich, seine eigentliche Frau,- seine Dual-Seele, wenn man so will-, zu vergessen. Er lernt Yokiko kennen. Sie ist die Tochter eines Baulöwen und Geschäftemachers aus Tokio. In sie verliebt Hajime sich, heiratet, wird Besitzer einer gut florierenden, exklusiven Jazz-Bar und gründet eine Familie. Endlich scheint er den Zustand seiner inneren Einsamkeit verloren und sich emotional glaubhaft in eine neue Situation eingerichtet zu haben.
Doch da erscheint nach 24 Jahren Shimamoto eines Abends in seiner Bar. Erneut ist er sofort hingerissen und kann nur noch an diese Frau denken.
Shimamoto kommt stets für ein paar Stunden, um mit Hajime zu sprechen, dessen Nähe sie sucht, um sich für eine kurze Weile vollständig zu fühlen. Sie möchte mit ihm nicht über ihr Leben sprechen. Sie möchte sich nur auf das, was sie beide betrifft, beschränken. Sie will ganz mit ihm sein.
Irgendwann verschwindet Shimamoto unangekündigt für sechs Monate aus Hajimes Leben.
Das ist der Zeitpunkt, wo sich sein Sehnen ins Unermessliche steigert und er, wenn er mit seiner durchaus von ihm geliebten Gattin beischläft, in Wahrheit Shimamoto in den Armen hält und nur noch an sie denken kann.
Hajime quält sich. Was mit ihm geschieht, liegt jenseits seines Wollens.
Als Shimamoto nach sechs Monaten erneut in die Bar kommt, entscheiden sich beide eine gemeinsame Nacht miteinander zu verbringen.
Auf der Autofahrt zu dem Haus, wo es zu Reich-Ranickis hochgelobter Liebesszene kommt, denkt Shimamoto daran, Hajime ins Lenkrad zu fassen, wohl in der Absicht den Eros zu überwinden, um auf ewig im Tod miteinander vereint zu sein und durch das Einfrieren der Liebe den Zustands des Glücks zu konservieren, der im Alltag mit den Jahren zunichte gemacht werden könnte.
Shimamoto weiß, wenn sie mit Hajime beischläft, will sie ihn ganz und für immer. Um sich den Wechselfällen des Lebens zu entziehen, möchte sie lieber den Tod.
Während der Liebesnacht bemerkt man, dass ihr Begehren ein geradezu tödliches Verlangen nach Ewigkeit in sich trägt.
Hajime ist nach der körperlichen Verschmelzung mit seinem Herzensdu für lange Zeit nicht mehr existent. Er will nicht mehr leben, weil Shimamoto tags darauf plötzlich verschwindet und wie er vermutet sich selbst getötet hat.
Nach einiger Zeit schafft Hajime es, in sein Leben zurückzukehren, aber er ist ein anderer als zuvor..........
Besuchen Sie den Friedhof Pere Lachaise/Paris. Dort ruhen Abaelard und Heloise ganz nah beieinander. Auf einer höheren Ebene sehe ich Parallelen zu Hajime und Shimamoto und bin immer noch überrascht, welch wunderbares Buch Murakami geschrieben hat.
Sehr lesenswert.