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Rezension: Wir sehen uns im August –Gabriel Garcia Márquez- Fischer- Taschenbuch



Dieses Werk ist der letzte Roman des 2014 verstorbenen, kolumbianischen Literaturnobelpreisträgers Gabriel Garcia Márquez. 

Christóbal Pera, der Herausgeber, hat im Februar 2023 einige Anmerkungen zu diesem kleinen Kunstwerk verfasst, die man auf den letzten Seiten des Buches nachlesen kann. 

Die Publikation wurde aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz einfühlsam ins Deutsche übersetzt. 

Bevor ich mich in den Roman vertieft habe, las ich zunächst die Kurzfassung auf der zweiten Seite des Buches und dachte spontan an die 1972 entstandene Komödie des amerikanischen Regisseurs Billy Wilder mit dem Titel "Avanti, Avanti!" als auch an den Roman "Salz auf der Haut" der französischen Literaturwissenschaftlerin und Feministin Benoîte Groult. Beide Werke habe ich im Laufe der vergangenen Jahre rezensiert. Beide sind eindeutig Liebesgeschichten, doch ist es dieses Werk auch?

Die Protagonistin, Ana Magdalena Bach, eine verheiratete Frau Ende 40, reist jedes Jahr mit der Fähre auf eine Karibikinsel, um ihrer dort bestatteten Mutter einen Strauß Gladiolen aufs Grab zu stellen. Sie wählt diese Blumen, weil ihre Mutter diese liebte. Weshalb ihre Mutter auf der Insel beerdigt werden wollte, hat sich Ana Magdalena zunächst nicht tatsächlich erschlossen. 

Sie nimmt sich stets für eine Nacht nach dem Besuch des Grabes in einem Touristenhotel ein Zimmer und reist am nächsten Morgen wieder ab, zurück zu ihrer Familie. 

Diesmal geschieht etwas Ungeplantes. 

Sie lernt in der Hotelbar einen Mann kennen, lässt sich auf diesen Avancen ein und verbringt mit ihm eine heiße Nacht in ihrem Hotelzimmer. Was stattfindet, ist nach meiner Interpretation reine körperliche Befriedigung, ist Sex ohne Liebe.

Ana Magdalena genießt diesen freizügigen Sex, ist allerdings entsetzt, als sie am nächsten Morgen einen 20 Euroschein in einem Buch auf dem Nachtisch vorfindet. Der Mann hat sie offenbar für eine Prostituierte gehalten. In der Welt lateinamerikanischer Männer verhält sich eine Dame eben grundsätzlich nicht wie eine Hure! Aber tut dies Ana Magdalena tatsächlich?  Hat der Mann ein Recht sie wie eine Prostituierte zu behandeln? Ich denke: NEIN!

Ana Magdalena hat an dem Ausbruch aus ihrem bürgerlichen Leben Gefallen gefunden und lässt sich in den Folgejahren im August auf der Insel erneut auf "One-Night-Stands“ ein,  dabei desinteressiert an den Männern, ihren Namen oder gar ihrer Herkunft, sondern wohl nur auf ihre eigene körperliche Befriedigung durch ihre Objekte der Begierde bedacht. 

Es ist die körperliche Liebe zu sich selbst, die sie auf diese Weise entdeckt, auch befriedigt und die sie befreit von dem alltäglichen Einerlei, das ihr offenbar nicht gut tut.

Ihre Mutter scheint eine jahrlange Liebschaft auf der Insel gehabt zu haben. Nichts Näheres erfährt man darüber. Man kann diese Liebschaft aber vermutlich in das einreihen, was in "Avanti, Avanti" thematisiert wird. Groults "Salz auf der Haut" thematisiert zwar bereits den freien Sex, aber nur mit einem einzigen Lover, der gesellschaftlich leider nicht zur Protagonistin passt. 

Wann wird eine Frau zur Hure? 

Letztlich durch materielle Vergütung von Liebesdiensten. Findet diese nicht statt, handelt es sich nur um ein freizügig sexuelles Verhalten, das in der bürgerlichen Welt für verheiratete Frauen, nicht nur in Lateinamerika, sondern überall auf der Welt gewissermaßen tabu ist. 

Vielleicht geht es Márquez in seinem Roman darum, diesen Tabubruch in Frage zu stellen, indem er ihn nicht moralisch wertet. Vielleicht geht es auch darum, die durch freien Sex zügellose Körperlichkeit dem Tod entgegenzusetzen, dem "Sack voller Knochen", der übrig bleibt, oft nur wenige Jahre nach der Einsamkeit, die Ana Magdalena offenbar verspürt als sie sagt "In meinem Alter sind alle Frauen allein."

 Maximal empfehlenswert. 

Helga König

Onlinebestellung: Verlag: Fischer Taschenbuch oder überall im Handel ab dem 24.9.25 erhältlich

Rezension: Gesten- Überlegungen zu einer flüchtigen Sprache- Kersten Knipp- Klostermann/Essay 12


Der beeindruckend belesene Autor dieses Essays mit dem Titel "Gesten" ist der freie Journalist und Publizist Kersten Knipp. 

Bereits der Untertitel des Essays macht neugierig, denn er lässt erahnen, dass die LeserInnen hier keine leichte Kost erwartet. "Überlegungen zu einer flüchtigen Sprache", was ist wohl mit dieser Sprache gemeint? Es geht um selbstvergessene Bewegungen, die Freundlichkeit zum Ausdruck bringen, Bewegungen, die eine besondere Art von Kommunikation sind, Bewegungen, die durch ihre kommunikative Absicht zur Geste werden. 

Wie man der Einleitung entnehmen kann, sind Gesten "nicht ohne weiteres in Worte zu fassen, aus der Semantik des Leibes nicht direkt in Sprache zu übersetzen." Dennoch, Gesten ließen sich mehr oder minder exakt deuten. Darüber erfährt man in der Folge viel Wissenswertes. 

Das Werk sei das vorerst letzte einer Art Kommunikationsgeschichte. Die beiden vorangegangen Arbeiten von Kersten Knipp dazu, habe ich auf "Buch, Kultur und Lifestyle" bereits rezensiert.

In dem vorliegenden Essay möchte der Autor zeigen wie reich die Sprache der Gesten ist -"und wie sehr wir uns darum als nicht nur intellektuelle, sondern auch körperliche Wesen denken sollten:" 

Im Rahmen von 8 Kapiteln lernt man Gesten unterschiedlicher Art kennen und vielleicht auch näher zu begreifen. Man erfährt, dass für den Philosophen Descartes einst der Geist vielleicht alles aber der Körper wenig war und dieses Selbstverständnis uns Menschen in der westlichen Welt noch immer präge. Doch es ist der Körper, so der Autor, der uns jene individuelle Identität gewähre, die anderweitig offenbar kaum mehr zu haben sei. 

Zur Sprache kommt "Blick und Bedeutung". Hier fragt Kersten Knipp, warum wir einander beobachten und beantwortet dies im Kapitel 3 sehr gut und vor allem ausgiebig. Hier liest man auch, wie der Philosoph Sartre den fremden Blick deutete, indem der Autor an eine Szene aus dem Werk "Das Sein und das Nichts" erinnert. Knipp zitiert u.a. auch den Philosophen Friedrich Nietzsche, der einst schrieb "Man teilt sich nie in Gedanken mit: man teilt sich in Bewegungen mit, mimische Zeichen, welche von uns auf Gedanken hin zurückgelesen werden."

Wie auch immer, der Leser erfährt anhand zahlloser Beispiele, dass der Körper kommuniziert, sogar Kommunikation sei und zwar unausgesetzt. In seinen Spaziergängen durch die Geisteswelt, schreibt Kersten Knipp u.a. über Rilkes Reflektionen hinsichtlich des Bildhauers Rodin und hier, dass für diesen der Körper aus lauter Schauplätzen des Lebens bestanden habe. Ein Gedanke, der neugierig auf Rilkes Werk zu Rodin macht.

Zu den politische Gesten, die in Kapitel 4 näher besprochen werden, zählt die Geste von Willi Brandt und dessen Kniefall am Denkmal für den Aufstand im Warschauer Ghetto, auch an die die Hände von Mitterand und Kohl, die einander ergreifen, als sie schweigend vor dem Beinhaus Douaumont stehen, wo die sterblichen Überreste von mehr als 130 000 getöteter Soldaten aus dem 1. Weltkrieg liegen. Eine Geste der Verbundenheit, die mehr als Worte zum Ausdruck bringt! 

Es ist unmöglich, im Rahmen der Rezension auf all die vielen Verweise einzugehen, die Kersten Knipp zusammengetragen hat, um die Facetten seiner Überlegungen vielschichtig zu unterfüttern. Auch die gestreckte Hand der Nazis bleibt nicht unerwähnt. Dieser Gruß sei Autosuggestion, denn er eröffne kein Gespräch, sondern fordere zum Glauben, zur politischen Hingabe auf. 

Interessant ist die Interpretation von Churchills "V", die weit mehr beinhaltet als zumeist angenommen.

Zur Sprache gebracht wird des Weiteren das Lächeln der Opernsängerin Maria Callas auf der Bühne und in diesem Kapitel auch der Blick von Greta Garbo und die Bedeutung von beidem. Wem gilt das Lächeln und wem der Blick? 

Besonders gut gefallen hat mir Kapitel 6 "Sinn in Bewegung. Die Gestik des Tanzes". Hier beleuchtet Kersten Knipp Degas Gemälde "L`Etoile" und erwähnt einen interessanten Text, den er in jungen Jahren gelesen hat. Es handelt sich um "Philosophie de la danse" von Paul Valery, wonach der Tanz eine Welt für sich bilde, ein dem Alltag enthobenes Geschehen, das seine eigene Zeit erschaffe, die mit der gewöhnlichen nicht viel zu tun habe. Tanzen bewege sich um sich selbst.

Tanz ist demnach ein Ausdrucksmittel der besonderen Art, vielleicht das letzte ursprüngliche wie die Tänzerin Isodora Duncan, einst formulierte und doch ist Tanz Kommunikation, weil, sobald man mit einem anderen tanzt,  man Fragen stellen muss mit unserem Körper, um in den nonverbalen Dialog mit dem Gegenüber treten zu können. 

In Kapitel 7 erfährt man Wissenswertes über die gestische Sozialisation des Autors und kann sich im 8. Kapitel mit zahlreichen Gesten der Gegenwart vertraut machen. 

Doch ich möchte nicht zu viel verraten, soviel nur: es gibt bei aller Gestenvielfalt zwischenzeitlich etwas Neues: die ausbleibende Geste! Das kommunikative Nichts! 

Es handele sich um die spätmoderne Weltvergessenheit, die die Signale des Sozialen verschlucke, wo Gesellschaft war, herrsche Subjektivität, die Kommunikation sei eine mit sich selbst. 

Traurig aber wahr!

Maximal empfehlenswert.  

Helga König 

 Onlinebestellung Klostermann Essay 12 oder überall im Handel erhältlich.