Der beeindruckend belesene Autor dieses Essays mit dem Titel "Gesten" ist der freie Journalist und Publizist Kersten Knipp.
Bereits der Untertitel des Essays macht neugierig, denn er lässt erahnen, dass die LeserInnen hier keine leichte Kost erwartet. "Überlegungen zu einer flüchtigen Sprache", was ist wohl mit dieser Sprache gemeint? Es geht um selbstvergessene Bewegungen, die Freundlichkeit zum Ausdruck bringen, Bewegungen, die eine besondere Art von Kommunikation sind, Bewegungen, die durch ihre kommunikative Absicht zur Geste werden.
Wie man der Einleitung entnehmen kann, sind Gesten "nicht ohne weiteres in Worte zu fassen, aus der Semantik des Leibes nicht direkt in Sprache zu übersetzen." Dennoch, Gesten ließen sich mehr oder minder exakt deuten. Darüber erfährt man in der Folge viel Wissenswertes.
Das Werk sei das vorerst letzte einer Art Kommunikationsgeschichte. Die beiden vorangegangen Arbeiten von Kersten Knipp dazu, habe ich auf "Buch, Kultur und Lifestyle" bereits rezensiert.
In dem vorliegenden Essay möchte der Autor zeigen wie reich die Sprache der Gesten ist -"und wie sehr wir uns darum als nicht nur intellektuelle, sondern auch körperliche Wesen denken sollten:"
Im Rahmen von 8 Kapiteln lernt man Gesten unterschiedlicher Art kennen und vielleicht auch näher zu begreifen. Man erfährt, dass für den Philosophen Descartes einst der Geist vielleicht alles aber der Körper wenig war und dieses Selbstverständnis uns Menschen in der westlichen Welt noch immer präge. Doch es ist der Körper, so der Autor, der uns jene individuelle Identität gewähre, die anderweitig offenbar kaum mehr zu haben sei.
Zur Sprache kommt "Blick und Bedeutung". Hier fragt Kersten Knipp, warum wir einander beobachten und beantwortet dies im Kapitel 3 sehr gut und vor allem ausgiebig. Hier liest man auch, wie der Philosoph Sartre den fremden Blick deutete, indem der Autor an eine Szene aus dem Werk "Das Sein und das Nichts" erinnert. Knipp zitiert u.a. auch den Philosophen Friedrich Nietzsche, der einst schrieb "Man teilt sich nie in Gedanken mit: man teilt sich in Bewegungen mit, mimische Zeichen, welche von uns auf Gedanken hin zurückgelesen werden."
Wie auch immer, der Leser erfährt anhand zahlloser Beispiele, dass der Körper kommuniziert, sogar Kommunikation sei und zwar unausgesetzt. In seinen Spaziergängen durch die Geisteswelt, schreibt Kersten Knipp u.a. über Rilkes Reflektionen hinsichtlich des Bildhauers Rodin und hier, dass für diesen der Körper aus lauter Schauplätzen des Lebens bestanden habe. Ein Gedanke, der neugierig auf Rilkes Werk zu Rodin macht.
Zu den politische Gesten, die in Kapitel 4 näher besprochen werden, zählt die Geste von Willi Brandt und dessen Kniefall am Denkmal für den Aufstand im Warschauer Ghetto, auch an die die Hände von Mitterand und Kohl, die einander ergreifen, als sie schweigend vor dem Beinhaus Douaumont stehen, wo die sterblichen Überreste von mehr als 130 000 getöteter Soldaten aus dem 1. Weltkrieg liegen. Eine Geste der Verbundenheit, die mehr als Worte zum Ausdruck bringt!
Es ist unmöglich, im Rahmen der Rezension auf all die vielen Verweise einzugehen, die Kersten Knipp zusammengetragen hat, um die Facetten seiner Überlegungen vielschichtig zu unterfüttern. Auch die gestreckte Hand der Nazis bleibt nicht unerwähnt. Dieser Gruß sei Autosuggestion, denn er eröffne kein Gespräch, sondern fordere zum Glauben, zur politischen Hingabe auf.
Interessant ist die Interpretation von Churchills "V", die weit mehr beinhaltet als zumeist angenommen.
Zur Sprache gebracht wird des Weiteren das Lächeln der Opernsängerin Maria Callas auf der Bühne und in diesem Kapitel auch der Blick von Greta Garbo und die Bedeutung von beidem.
Wem gilt das Lächeln und wem der Blick?
Besonders gut gefallen hat mir Kapitel 6 "Sinn in Bewegung. Die Gestik des Tanzes". Hier beleuchtet Kersten Knipp Degas Gemälde "L`Etoile" und erwähnt einen interessanten Text, den er in jungen Jahren gelesen hat. Es handelt sich um "Philosophie de la danse" von Paul Valery, wonach der Tanz eine Welt für sich bilde, ein dem Alltag enthobenes Geschehen, das seine eigene Zeit erschaffe, die mit der gewöhnlichen nicht viel zu tun habe. Tanzen bewege sich um sich selbst.
Tanz ist demnach ein Ausdrucksmittel der besonderen Art, vielleicht das letzte ursprüngliche wie die Tänzerin Isodora Duncan, einst formulierte und doch ist Tanz Kommunikation, weil, sobald man mit einem anderen tanzt, man Fragen stellen muss mit unserem Körper, um in den nonverbalen Dialog mit dem Gegenüber treten zu können.
In Kapitel 7 erfährt man Wissenswertes über die gestische Sozialisation des Autors und kann sich im 8. Kapitel mit zahlreichen Gesten der Gegenwart vertraut machen.
Doch ich möchte nicht zu viel verraten, soviel nur: es gibt bei aller Gestenvielfalt zwischenzeitlich etwas Neues: die ausbleibende Geste! Das kommunikative Nichts!
Es handele sich um die spätmoderne Weltvergessenheit, die die Signale des Sozialen verschlucke, wo Gesellschaft war, herrsche Subjektivität, die Kommunikation sei eine mit sich selbst.
Traurig aber wahr!
Maximal empfehlenswert.
Helga König
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