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Rezension: Briefe an Poseidon - Cees Nooteboom

"Je mehr wir schauen, um so mehr wissen wir. Je mehr wir wissen, um so größer wird das Rätsel."

Der von mir sehr geschätzte niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom wartet in diesem Herbst erneut mit sehr fantasiereichen, sprachlich begnadeten Texten auf, mittels denen er seinen Lesern Einblicke in seinen hochgebildeten Kopf gewährt.

Der das Meer liebende, weitgereiste Niederländer schreibt dem griechischen Meeresgott Poseidon 23 Briefe, die begleitet werden von unzähligen essayistischen Betrachtungen zu Gelesenem, Gesehenem und Erlebten. Interessant dabei sind die Zusammenhänge und Verknüpfungen, die der Autor voller sprachlicher Raffinesse herstellt

Berührt hat mich, dass Nooteboom gleich zu Beginn den von mir ebenfalls sehr geschätzten Schriftsteller Sándor Márai erwähnt und von dessen Selbstmord im hohen Alter berichtet. Márai war Kosmopolit, ganz ähnlich wie Nooteboom. Der Ungar las zu Ende seines Lebens Aristoteles, den griechischen Philosophen, von dem ich gerne wissen würde, wie er über die Briefe an Poseidon denkt. Er kann es mir nicht sagen, denn er lebt nur noch in seinen Büchern. Während ich mir dies bewusst mache, fallen mir sofort wieder die Eingangssätze aus einem der Essays ein. Hier fragt der Nooteboom: "Ist einer, der bereits mehrere Tausend Jahre tot ist, genau so tot wie ein im Vorjahr verstorbener? Gibt es eine Hierarchie im Totenreich, wonach ein älterer Toter einen anderen Status hat als ein Neuankömmling, der noch nicht von der Ewigkeit berührt worden ist, sondern noch nach Zeit riecht, nach Leben?" (S.69). Eine interessante Frage, nicht nur bezogen auf Aristoteles, die uns nicht beantwortet werden kann, weder von Poseidon, noch von einem anderen Gott. Doch wenn die Ewigkeit kein gedankliches Konstrukt der Menschen ist, dann dürfen wir hoffen, dass es dort keine Hierarchien gibt, alles frei von Zeitmustern nebeneinander existiert, ganz ähnlich, wie die vielen Erinnerungen Nootebooms, die er spielerisch in seine Texte einfließen lässt und die sich dort zu etwas Neuem gestalten, das den Leser in den Bann zieht.

 Die fiktiven Briefe an Poseidon bezeugen die umfangreichen Kenntnisse Nootebooms im Hinblick auf die griechische Mythologie, während er in den Essays dazwischen sich u.a. in seinen Erinnerungen im Prado aufhält und sich dabei Gedanken über ein Gemälde von Peter Snayers macht. Das Motiv stammt aus dem Jahre 1641. Sieht der Betrachter nun Geschichte oder Kunst oder beides? Der Essay endet mit dem Satz: "Aber er weiß nichts von dem Atem, der an jenem Morgen aus unseren Mündern drang, nichts von dem Geschrei der Krähen, von dem Hufen der Pferde auf dem gefrorenen Boden." Ja, nicht alle sinnlichen Wahrnehmungen können über die Jahrhunderte hinweg, sei es durch Bilder, Musik oder Bücher transportiert werden. Es bleibt immer etwas in der Vergangenheit zurück als unentschlüsselbares Geheimnis, etwas, was zum Schreiben inspiriert und dem Dichter oder Schriftsteller künstlerische Freiheiten lässt

Nooteboom erzählt Poseidon von einer Zeichnung Leonardo da Vincis, fragt ihn, ob die Götter lesen und ob er Seneca kenne. Hätte der Schriftsteller hier nicht besser den römischen Gott des Meeres "Neptun" gefragt? Vielleicht hätte dieser bereitwilliger geantwortet. Der Niederländer berichtet Poseidon auch von Kafka, der ein bestimmtes Bild von dem griechischen Gott prägte, das wohl über jenes von Homer gesiegt hat und fragt ihn wenig später, wie langsam ein Ertrinkender in die Tiefe des Meeres sinke und ab wann auf ihn seitens der Tiere Jagd gemacht werde. Solche Fragen müsste Poseidon spontan beantworten können, doch er schweigt.

 Ganz sicher ist sich Nooteboom nicht, ob dieser Gott nur eine Kopfgeburt unserer Vorfahren war oder ob er nicht eines Morgens auf einem Felsen dessen Dreizack findet. Doch was dann? Wird es dann ein weiteres Buch geben mit dem Titel "Briefe von Poseidon"? Als Leserin wünsche ich mir dies natürlich sehr.

 Ein wunderbares Buch eines hinreißenden Erzählers.

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