Die 1940 geborene Schriftstellerin und Psychotherapeutin Helga Schubert lebte bis 1989 in der DDR und bereitete als Pressesprecherin des Zentralen Runden Tisches die ersten freien Wahlen vor.
Mit dem vorliegenden Band – 80 Jahre Leben in 29 Erzählungen - hat sie 2020 nach vielen Buchveröffentlichungen und Auszeichnungen in vergangener Zeit und einem Rückzug aus dem literarischen Leben den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen.
Mit dem vorliegenden Text tauchen die Leser in eine Welt ein, die uns fremd und längst vergangen erscheint. Helga Schubert schreibt über ihre Kindheit als Flüchtlingskind und Halbwaise aus gebildetem Hause, schreibt vom Trauma ihres Lebens, dem Tod ihres Vaters, der als Soldat von einer Handgranate zerrissen wurde, erzählt von ihrer Mutter und Großmutter, ihrem Leben als Schriftstellerin in der DDR, in der sie sich eingemauert fühlte, von ihrer Sehnsucht zu reisen, die erst zu dem Zeitpunkt aufhörte, wo es ihr möglich war, dies, wann immer sie wollte, auch zu tun und von ihrem Leben auf dem Land in Mecklenburg-Vorpommern, das für sie zu Zeiten als sie sich noch in der DDR eingesperrt fühlte, nicht denkbar gewesen wäre.
Die Geschichten spiegeln die Farben einer Zeit, die alles andere als bunt für sie war, sondern in vieler Hinsicht verwirrend absurd.
Beeindruckt hat mich besonders nachstehende Passage einer Geschichte, die für das ganze Buch sehr bezeichnend ist: "Als ich nach dem Tod meiner Mutter ihre Wohnung mit über zehntausend Büchern zum ersten Mal allein betrat, um alles zu kündigen, aufzulösen, renovieren zu lassen, die Abstellkammer und der Keller waren bis zur Decke mit Kartons und Papier gefüllt, standen auf ihrem Sekretär noch die beiden Bronzeabgüsse von Ernst Barlach: die Lesende und der Flötenspieler, etwas kleiner als die Originale. Sie hatte sie in Raten jahrelang abbezahlt. Als niemand Ansprüche stellte, nahm ich sie zu mir, beide versunken in ihr Tun, in ihrer eigenen Welt, der Welt der Bücher und der Welt der Musik. Vielleicht wollte meine Mutter, dass ich sie so in Erinnerung behalte. Das alles andere langsam verblasst“.
Helga Schubert schreibt natürlich über das andere auch und vergisst nicht zu erwähnen, dass ihre Mutter 101 Jahre alt wurde. Sie, Helga, die Tochter, hat eine völlig andere Sozialisation, die in ihr eine merkwürdige Melancholie hat entstehen lassen, die die Leser in den Bann zieht, ohne genau beschreiben zu können, weshalb. Insgesamt ist es ein Buch, das versöhnlich abschließt und der Autorin die Möglichkeit schenkt, unbekümmert neuen Räumen entgegenzugehen.
Maximal empfehlenswert
Helga König
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